Einer trage des anderen Schuld
blickte Hester unverwandt in die Augen. Ihre Miene gab nichts preis und verriet auch keinerlei Herzlichkeit.
»Ich habe die neuen Betttücher«, sagte sie. »Insgesamt zwei Dutzend. Sie werden die alten, die wir wegwerfen müssen, mehr als ersetzen.«
»Die können wir immer noch zerreißen und als Verbandszeug verwenden«, erwiderte Hester und trat näher. »Danke.«
Margaret wirkte überrascht, als wäre ein persönlicher Dank unangebracht. »Es war ja nicht mein Geld«, bemerkte sie steif.
»Aber wir würden nicht darüber verfügen, wenn Sie nicht gewisse Leute zum Spenden überredet hätten.« Hester brachte ein Lächeln zuwege. »Aber natürlich jammert Squeaky schon wieder. Jetzt sind es die alten Töpfe, die nicht mehr repariert werden können, und es müssen neue her.«
Margarets Anspannung ließ nach. »Irgendwann werden wir sicher neue benötigen. Ich habe aber nur gesagt, dass wir allmählich anfangen sollten, dafür zu sparen. Ich schwöre Ihnen, der Mann wäre todunglücklich, wenn er nicht irgendeinen Grund zur Klage fände.«
Ein schüchternes Klopfen war zu hören. Hester öffnete die Tür, und Claudine Burroughs trat ein, um die Tür gleich wieder hinter sich zu schließen. Sie war eine Frau mittleren Alters mit breiten Hüften und einem Gesicht, das früher einmal hübsch gewesen war, das aber Zeit und Kummer hatten welken lassen. Sowohl ihre geistige Unabhängigkeit als auch einen beachtlichen Lebenszweck hatte sie erst entdeckt, seit sie ehrenamtlich in der Klinik mithalf. Dabei hatte sie ursprünglich in erster Linie ihren fantasielosen Mann ärgern wollen. Sie hatte sich seinem Befehl widersetzt, ihre Verbindung mit so einer Einrichtung auf der Stelle abzubrechen, und dabei mehr Mut bewiesen, als sie sich je zugetraut hatte.
»Guten Morgen, Mrs Monk!«, rief sie fröhlich. »Morgen, Lady Rathbone.« Und ohne eine Erwiderung abzuwarten, erstattete sie Bericht über die seit dem vergangenen Abend neu aufgenommenen Patientinnen und über die Fortschritte bei den ernsteren Fällen, die schon länger ein Bett belegten. Es handelte sich um die üblichen Fiebererkrankungen, Stichwunden, eine ausgerenkte Schulter, Entzündungen und Parasitenbefall – nichts, was wirklich dramatisch gewesen wäre. Aus der Reihe fiel lediglich ein Abszess, von dem Claudine triumphierend vermeldete, dass sie ihn aufgestochen hatte und die wunde Stelle jetzt sauber war und bald heilen müsste.
Margaret zuckte bei dem Gedanken an die Schmerzen, von dem vielen Blut ganz zu schweigen, unwillkürlich zusammen.
Hester beglückwünschte Claudine zu dem fachmännisch ausgeführten Eingriff. Danach wandten sie sich Haushaltsangelegenheiten zu, ehe sie den ernsteren Fällen einen Besuch abstatteten. Auch hierbei waren ihre Gespräche rein geschäftlicher Natur.
Als Hester nach den Krankenvisiten die Treppe zur Empfangshalle hinunterstieg, wartete dort Oliver Rathbone. Das unverhoffte Wiedersehen verblüffte sie, ja, sie verlor für einen Moment die Fassung, denn sie hatte sich die ganze Zeit Mühe gegeben, keinen Gedanken daran zu verschwenden, was Monk ihm über Ballinger hätte sagen können. Jetzt genügte ein Blick auf Rathbones sensibles und intelligentes Gesicht mit dem fragenden Ausdruck, um zu wissen, dass Monk noch nicht mit ihm gesprochen hatte. Plötzlich fühlte sie sich schuldig, als hätte sie ihn irgendwie getäuscht, da sie mehr über die Angelegenheit wusste als er, ihn aber nicht aufklärte.
»Guten Morgen, Oliver«, begrüßte sie ihn mit dem Anflug eines Lächelns. »Wenn Sie Margaret suchen, sie ist im Medikamentenzimmer.«
Rathbone zog die Augenbrauen hoch. »Haben Sie es eilig?«
Sie hätte sich selbst einen Tritt verpassen können, weil sie ihn so schnell hatte weiterverweisen wollen. Damit war sie nicht nur unhöflich gewesen, sondern hatte auch noch ihr Unbehagen verraten. Würde eine Entschuldigung alles noch schlimmer machen?
»Ist alles in Ordnung bei Ihnen?«, erkundigte er sich und trat einen Schritt auf sie zu. »Und Scuff? Wie geht es ihm?«
Rathbone war dabei gewesen, als sie so verzweifelt nach dem Jungen gesucht hatten. Er wusste genau, wie sie empfand. Das Grauen hatte damals auch ihn so schlimm wie noch nie in seinem Leben gepackt, und das, obwohl er als Verteidiger oder Staatsanwalt bereits hautnah mit einigen der übelsten Verbrechen von London in Berührung gekommen war. Hester sah die Erinnerung in seinen Augen aufflackern und erkannte darin zugleich seine Sanftheit.
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