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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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ein Schulterzucken an. »Ich habe mir gedacht, dass Sie das vielleicht wissen wollen.« Ballinger oder Margaret erwähnte er mit keinem Wort. Aber das brauchte er auch gar nicht. Keiner von ihnen beiden würde je die Nacht auf Jericho Phillips’ Boot vergessen, das Entsetzen und die Angst, dass Scuff vielleicht schon tot war und sie zu spät gekommen waren, den Gestank der halb verwesten Leiche im Kielraum, als sie ihn bargen, klein und leichenblass, am ganzen Körper zitternd. Ebenso wenig würden sie die Leichen am Execution Dock vergessen.
    »Sind Sie sicher, dass es Cardew war?«, fragte der Anwalt. Er wunderte sich, wie normal seine Stimme klang.
    »Der Dreckskerl wurde mit seinem Halstuch erdrosselt«, klärte Monk ihn auf. »Der Pathologe musste es förmlich aus Parfitts Hals herausschneiden, da es von dem zugeschwollenen Fleisch verdeckt gewesen war. Es war ungewöhnlich: dunkelblau mit goldenen Leoparden, eine Dreiergruppe.«
    Rathbone spürte, dass sich der Knoten, der ihm am Anfang den Magen zugeschnürt hatte, lockerte. Das war ein echtes Beweisstück. Es beschämte ihn, dass die Verzweiflung eines anderen ihm solche Erleichterung verschaffte. Jetzt wusste er es mit Gewissheit, dass er große Angst gehabt hatte, Ballinger wäre irgendwie in die Verbrechen verwickelt. Er hatte es sich nicht eingestanden, aber in dem Maße, in dem jetzt die Angst nachließ, wurde ihm klar, welche Macht sie über ihn gehabt hatte, und auf einmal wurde ihm fast schwindlig.
    »Ja«, sagte er laut, »Sie haben recht. Das scheint in der Tat schlüssig. Es tut mir aufrichtig leid; Lord Cardew wird am Boden zerstört sein. Armer Mann.«
    Monk schwieg. Sein Gesicht war immer noch blass, und seine Augen wirkten hohl. Er nickte langsam, bedankte sich mit einem knappen Lächeln, dann drehte er sich abrupt um und ging.
    Rathbone hörte noch, wie er draußen eine ihm vom Diener angebotene Tasse Tee dankend ablehnte.
    Als die Tür zugefallen war und Rathbone wieder hinter dem Schreibtisch Platz genommen hatte, begann er plötzlich zu zittern. Nicht vor Schreck, sondern aus unendlicher Erleichterung. Er hatte das Gefühl, einer Gefahr entronnen zu sein, für die er sich gewappnet hatte, bis ihn jedes Glied vor Anspannung schmerzte. Er hatte nicht vermocht, den Gedanken, dass Ballinger tatsächlich ein Verbrecher sein könnte, konsequent zu verfolgen, weil er Margaret damit nicht wiedergutzumachenden Schmerz zugefügt hätte. Sie liebte ihren Vater noch immer mit der gleichen Bedingungslosigkeit, wie sie es als Kind getan haben musste.
    Dafür bewunderte er sie, und doch hinderte es ihn daran, nach der Wahrheit über Ballingers Verstrickung zu forschen. Ein solches Verhalten stand in völligem Gegensatz zu seinem sonstigen Gerechtigkeitsempfinden. Es war das erste Mal, dass er sich so benahm, und dafür schämte er sich. Jetzt hatte das Schicksal ihm gestattet, sich der Konfrontation mit der Wahrheit zu entziehen, und das war ein unverdientes Geschenk.
    Heute Abend wollte er mit Margaret zu einer Dinnerparty gehen, zu der sie bereits die Einladung angenommen hatten. Eine wunderbare Gelegenheit, diese Wendung mit ihr zu feiern. Es sollte ein unvergesslicher Abend voller Glück für sie werden. Er gestattete es sich, mit den Gedanken schon dort zu verweilen, bis ihm der Diener die Ankunft des ersten Mandanten an diesem Tag meldete.
    Die Dinnerparty war überwältigend. Rathbone hatte Margaret erst kürzlich eine wunderschöne Halskette aus Granat mitsamt dazu passenden Ohrringen und einem Armreifen geschenkt. Der Schmuck war ein wenig extravagant, entsprach aber dem glanzvollen, doch diskreten Ambiente, das sie am liebsten mochte. An diesem Abend trug sie seine Geschenke zu einem Kleid aus weinroter Seide. Es hatte einen Rock, der ausladender war, als es normalerweise ihrem Geschmack entsprach, und das Mieder war vielleicht etwas tiefer ausgeschnitten als bei ihren übrigen Kleidern. Die Juwelen schimmerten auf ihrer makellosen, blassen Haut. Sie war so glücklich, wie er sie noch nie erlebt hatte.
    Sie betraten den Festsaal, wo sie mit höflichen Worten empfangen wurden. Fast zwanzig Personen waren anwesend. Die Männer waren in elegantes Schwarz gehüllt, die Frauen in eine lodernd bunte Pracht, von den schimmernden Pastelltönen der jüngeren bis hin zum Burgunderrot, Violett, Pflaumenblau und satten Braun der Rangälteren der Aristokratie. Diamanten glitzerten in gebändigtem Feuer, Bänder aus Perlen glühten auf nackter Haut.

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