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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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fragwürdiger Moral handelte. Es sei denn, es war sehr viel Gewalt im Spiel. Ist das der Fall?«
    »Rupert ist ein Hitzkopf.« Cardew flüsterte fast, die Stimme brüchig vor emotionaler Anspannung. »Aber soviel mir bekannt ist, hatte er immer nur mit anderen Männern Streitereien.«
    »Kam es dabei zu Gewalt?«, setzte Rathbone nach.
    Cardew zögerte, ehe er es schließlich zugab. »Ja … manchmal. Ich weiß nicht, worum es ging. Ich wollte es nicht wissen.«
    »Aber war sie gerechtfertigt?«
    »Gerechtfertigt? Wie kann es gerechtfertigt sein, einen Mann praktisch besinnungslos zu schlagen?«
    »Notwehr … oder Verteidigung einer anderen Person, die schwächer, bereits verwundet oder in einer anderen Weise hilflos ist.«
    »Ich wünschte, es wäre so entschuldbar gewesen wie das, was Sie angeführt haben.«
    »Ist das alles? Nur Schlägereien?«
    »Reicht das denn nicht?«, gab Cardew kläglich zurück. »Besuche bei Prostituierten, Trunkenheit, Schlägereien, bis man einem Mann lebenslange Verletzungen zufügt? Gott im Himmel, Rathbone! Rupert wurde zum Gentleman erzogen! Er ist der Erbe von allem, was ich habe, von den Privilegien ebenso wie von den Aufgaben. Wie kann ich ihm je erlauben, eine anständige Frau zu heiraten? Das kann ich der Tochter eines anderen Mannes doch nicht antun!«
    Rathbone hatte zahllose Männer in diesem Sessel in seinem Büro sitzen sehen, alle derart von Furcht und Schmerz gequält, dass der ganze Raum davon regelrecht aufgeladen war. Aber bei keinem war der Kummer tiefer gewesen als bei diesem Mann, der vielleicht deshalb umso schlimmer litt, weil es nicht um ihn selbst ging, sondern um jemanden, den er liebte. Hatte Rupert eine Vorstellung davon, welche Qualen er ihm bereitete? Auch wenn er es nur ahnte, war sein Verhalten unverzeihlich.
    Rathbone dachte an Arthur Ballinger und an die Liebe seiner Kinder zu ihm, vor allem die Margarets. Dass ihm eine seiner Töchter solche Schmerzen zufügte, war undenkbar.
    Wie wertlos Rupert Cardew im Vergleich dazu war! Welcher brutale Egoismus beherrschte diesen Mann?
    Dann dachte er an seinen eigenen Vater. Ihre Freundschaft war vielleicht das Wertvollste in seinem Leben, denn sie war der Grundstein, auf dem alles andere beruhte. Er konnte sich an keine Zeit erinnern, in der Henry Rathbone nicht da gewesen wäre, um ihm einen Rat zu geben, sich ein Problem anzuhören, ihn zu ermutigen oder auch zu loben.
    Sollten er und Margaret eines Tages Söhne haben, würde er ihnen auch ein so guter Vater sein?
    Was hatte Lord Cardew getan oder versäumt, dass es zu dieser Tragödie gekommen war? Hatte er die Liebe seines Sohnes mit einer Nachsicht erkauft, die am Ende alle beide zerstört hatte? Er hatte den Schmerz einer Konfrontation vermeiden wollen, die Einsamkeit nach einer Entfremdung, auch wenn sie nur vorübergehend war. Rathbone konnte das nachvollziehen, andererseits brauchte er nur Cardews gequältes Gesicht zu betrachten, um eine Vorstellung davon zu bekommen.
    Lag die Schuld, die Cardew empfand, darin, dass er diese Entwicklung irgendwie hätte verhindern können? Ein Wort, eine Zeit des Schweigens, eine konsequent verfolgte Entscheidung, und alles wäre ganz anders verlaufen?
    Jetzt gab es nur noch einen Weg: versuchen zu helfen.
    »Aus welchem Grund hätte er Mickey Parfitt wohl umbringen wollen?«, fragte Rathbone laut. »Irgendeinen Zusammenhang muss es doch geben. In rasender Wut wurde dieses Verbrechen nicht begangen. Mickey bekam einen Schlag auf den Kopf; als er daraufhin zumindest benommen, wenn nicht bewusstlos war, wurde er vorsätzlich mit einem Halstuch erdrosselt, das zuvor, um den Druck auf Kehle, Luftröhre und Halsschlagader zu verstärken, verknotet worden war. Das war kein Impuls aus rasender Wut oder Jähzorn heraus. Und ich sehe nichts, was auf Notwehr hindeuten könnte.« Es fiel ihm schwer, Cardew weiter ins Gesicht zu schauen, doch zumindest das schuldete er diesem Mann, wenn er ihn schon mit solchen Wahrheiten belastete.
    Cardew saß regungslos da.
    »Niemand findet rein zufällig sein bestes Halstuch in seiner Jackentasche, noch dazu der besseren Wirkung halber verknotet«, fügte Rathbone hinzu. »Dieses Tuch wurde vorsätzlich als Waffe mitgeführt, um jemanden damit umzubringen. Und es ist keine für die Notwehr gedachte Waffe. Als solche könnte man vielleicht noch einen herabgefallenen Ast ansehen, aber wenn er den Mann bereits niedergeschlagen hatte und es ihm darum ging, eine Gefahr abzuwenden, hätte er

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