Einer trage des anderen Schuld
nicht er.« Unbewusst zog er beim Sprechen die Schultern hoch, als sähe er sich selbst einer Gefahr gegenüber.
Rathbone lächelte leicht, doch ohne jede Vergnügtheit, in sich hinein. »Es bereitet mir einige Schwierigkeiten, für mich selbst zu bestimmen, was ›kaltblütig‹ eigentlich bedeutet.«
In diesem Moment klopfte der Diener an und trat – nach Rathbones Erlaubnis – mit einem Tablett ein, auf dem er Tee in einer silbernen Kanne, ein Sahnekännchen und ein Zuckerschälchen, ebenfalls aus Silber, sowie silberne Gebäckzangen und Löffel balancierte. Das Porzellan war schlicht, zierlich und lediglich mit einer kleinen blauen Krone verziert. Auch wenn Rathbone das kurz zuvor abgelehnt hatte, brachte er darüber hinaus eine Flasche Brandy der Marke Napoleon und stellte sie auf dem Sideboard ab. Nachdem er den Tee eingeschenkt hatte, entschuldigte er sich und zog sich zurück.
»Wie zivilisiert«, bemerkte Cardew mit einem verzweifelten Unterton. »Wie ungemein britisch! Wir sitzen hier bei Tee in deutschen Porzellantassen, französischem Brandy, falls wir sein Feuer brauchen, und sprechen über Mord, Gerechtigkeit und Hängen. Ganz genauso würden wir dasitzen und im selben Ton miteinander sprechen, wenn es ums Wetter ginge.«
»Weil hier unsere Intelligenz gefordert ist, nicht unser Gefühl«, entgegnete Rathbone. »Wenn wir uns emotional gehenlassen, wird das Ihrem Sohn nicht helfen.«
»Sich gehenlassen«, murmelte Cardew mit dem ersten Anflug von Bitterkeit, den Rathbone je bei ihm gehört hatte. »Ruperts Sündenhaftigkeit, die ich nie im Zaum gehalten habe. Ich habe sie bemerkt, ich habe sie ihm durchgehen lassen, als würde er von selbst aus ihr herauswachsen. Wie kommt es, dass wir unsere Söhne immer noch als Kinder betrachten, denen man mit genügend Zeit, Liebe und Geduld alles nachsehen kann, selbst wenn sie schon erwachsene Männer sind und es besser wissen müssten? Die Welt wird keine solchen Entschuldigungen für sie finden, und es ist Täuschung, wenn wir das tun. Das bleibt natürlich unausgesprochen, aber es ist nichtsdestoweniger Täuschung.«
Rathbone nickte. »Weil wir Tag für Tag lieben, und immer bedingungslos. Wir bemerken nicht die Zeit, die vergeht, noch die Gefahren, die wir hätten verhüten oder vor deren Folgen wir zumindest hätten warnen müssen. Aber nichts von alldem wird uns jetzt helfen.« Er blickte Cardew fest ins Gesicht. »Parfitts Name und Ruf sind Ihnen ja offenbar bekannt. Aber wie haben Sie davon erfahren, Sir?«
Cardew zeigte sich im ersten Moment verblüfft, dann peinlich berührt.
Rathbone befiel die alptraumhafte Vorstellung, Cardew hätte sich womöglich selbst früher einmal zu solchen Vergnügungen verführen lassen, doch dann tat er das als grotesk und auch abstoßend ab. Gleichwohl hatte er seinem Gegenüber eine Frage gestellt, und er wartete auf eine Antwort.
Erneut wandte Cardew den Blick ab. »Während des größten Teils seines Erwachsenenlebens hat mich Rupert wieder und wieder in gewisse Verlegenheiten gestürzt. Vor etwa fünfzehn Jahren ging das los, als er um die achtzehn Jahre alt war. Ich habe immer gewusst, warum er in Kalamitäten geriet, weil ich … ihm herausgeholfen habe, wenn das nötig wurde.« Mit dieser Antwort wich er der hässlichen Wahrheit aus, und beide Männer waren sich dessen bewusst. Doch sogar jetzt brachte es Cardew nicht über sich, die Dinge beim Namen zu nennen.
Rathbone war jedoch kein begnadeter Schönredner. »Lord Cardew«, sagte er ernst, »ich kann nichts für Ihren Sohn tun, wenn ich nicht weiß, wogegen ich kämpfe. Welche Art von Kalamitäten waren das? Er zahlte für die Dienste Prostituierter – das ist nicht schmeichelhaft, aber auch nicht ungewöhnlich. Und gewiss kein Verbrechen, für das ein Gentleman von den Gerichten bestraft wird, vor allem dann nicht, wenn er unverheiratet ist und daher niemandem sexuelle Treue schuldet. So etwas ist eigentlich gar nicht der Rede wert und viel besser, als eine junge, tugendhafte Frau mit falschem Eheversprechen zu verführen. Es ist ein moralisches Vergehen von einigem Gewicht, aber nicht etwas, das vom Gesetz bestraft werden kann.«
Cardews Gesicht war aschfahl geworden, seine Schultern waren angespannt, doch er sagte immer noch nichts.
»Gewalt wäre etwas anderes«, fuhr Rathbone fort. »Vergewaltigung ist ein Verbrechen, egal, wer das Opfer ist. Allerdings würde sich die Gesellschaft wenig darum scheren, wenn es sich um eine Frau von
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