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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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sich in diesem Moment zurückziehen können. Doch er blieb, nahm sein Halstuch ab, verknotete es und strangulierte dann den bewusstlos zu seinen Füßen liegenden Mann. Und ich habe noch gar nicht erwähnt, dass er ihn danach in den Fluss geworfen hat.«
    Cardew zuckte bei jedem neuen Detail zusammen. »Parfitt war eine Ausgeburt der Hölle!«, stieß er voller Abscheu hervor. »Der widerwärtigste Abschaum, der es gar nicht verdiente, aufrecht zu gehen. Er beutete die Schwächen anderer aus, leistete ihren Lastern Vorschub, bis seine Opfer fast genauso verderbt waren wie er, und erpresste sie dann. Und wenn Sie glauben, dass damit die Tiefen ausgelotet wären, in die er gesunken war, dann denken Sie bitte an die Kinder, die er dafür benutzte. Sie waren ohne Schuld, doch sie litten am meisten und hatten keine Möglichkeit zu entkommen. Wer immer ihn getötet hat, hat der Menschheit einen Dienst erwiesen, so wie ein Arzt, der uns von einer üblen Seuche befreit.« Cardew holte tief Luft. »Und sparen Sie sich die Mühe, mir zu sagen, dass so etwas keinen Mord rechtfertigt. Ich bin mir dessen vollkommen bewusst. Ich brauche Hilfe, Sir Oliver, keine Predigt über die Heiligkeit allen menschlichen Lebens.«
    Ein düsteres Lächeln huschte über Rathbones Gesicht. »Ich hatte nicht die Absicht, Ihnen eine solche zu halten, Lord Cardew. Im Gegenteil, Sie sprechen mir aus der Seele. Und, glauben Sie mir, wenn ich vor einem Richter und zwölf Geschworenen stehe, um Rupert zu verteidigen, werde ich Mickey Parfitt auf eine Weise darstellen, dass sie ihn als das erkennen werden, was er war. Aber um seinen Tod zu rechtfertigen, werde ich mehr benötigen als seine Verkommenheit. Die Geschworenen werden wissen wollen, warum von all seinen Opfern ausgerechnet Rupert derjenige war, der ihn schließlich tötete. Ich muss es ihnen von seinem Standpunkt aus erklären können, und zwar im Besonderen, nicht im Allgemeinen. Sie müssen sich in seine Lage versetzen können, seine Leidenschaft spüren, seine Angst, seine Empörung, was immer es war, das ihn zu einer solchen Tat getrieben hat. Auch der Strafverfolger wird schlau und wortgewandt sein und Parfitts Recht auf Leben verteidigen, wie er das auch bei jedem von uns tun würde.«
    »Selbstverständlich. Das leuchtet mir ein. Wir können es nicht jedem erlauben, sich als selbst ernannter Richter und Henker eines Mitmenschen aufzuspielen. Die schlichte Antwort darauf ist, dass ich nicht weiß, warum Rupert ihn umgebracht hat. Ich hatte keine Möglichkeit, ihn zu fragen. Und um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich bin mir nicht sicher, ob er es mir überhaupt erzählen würde.« Er geriet ins Stocken. Es war ein Ringen um Worte für etwas, das auszusprechen ihm eine schier unerträgliche Qual bedeutete.
    Rathbone erlöste ihn aus seiner Not. »Natürlich. Es ist oft leichter, mit jemandem zu sprechen, dessen Meinung nicht die eigenen Emotionen berührt. Das ist bei vielen Menschen so, mit denen ich in meiner Kanzlei zu tun habe. Wenn Sie mich damit beauftragen, werde ich unverzüglich ins Gefängnis gehen und mit Rupert sprechen.« Er erhob sich. »Ich denke, wir sollten das sobald wie möglich in Angriff nehmen. Ich werde mich darum kümmern, dass er vernünftig behandelt wird und alles erhält, was in seiner Situation für sein Wohlbefinden gestattet ist. Ich werde Sie in Kenntnis setzen, sobald ich etwas Berichtenswertes zu sagen habe.« Rathbone reichte Cardew die Hand.
    Cardew stand langsam auf. Es schien ihn einige Anstrengung zu kosten, aber als er Rathbones Hand ergriff, drückte er sie mit verblüffender Kraft. Ein Ertrinkender, der inmitten übermächtiger Wellen die Hand nach Hilfe ausstreckte.
    Am frühen Nachmittag stand Rathbone im Eingang des Newgate Prison. Die mächtige Eisentür fiel hinter ihm zu, und ein Wärter mit verdrießlicher Miene führte ihn einen engen Korridor hinunter zu einer Zelle, die ihm für Rupert Cardews Vernehmung zugestanden worden war. Seine Schritte donnerten über den Boden, doch der Widerhall erstarb fast sofort, als erstickten ihn die Steinmauern. Dieser Ort war eine sonderbare Mischung aus Leben und Tod. Rathbone war sich eindringlich der emotionalen Schmerzen bewusst, der Angst, der Zerknirschtheit, des in den Abgründen der Seele lauernden Grauens vor der physischen Auslöschung und allem, was jenseits des Lebens liegen mochte. Doch trotz all dieser Gefühle war dieses Gefängnis ein Ort, der das Leben abschnürte. So etwas wie Tatkraft gab

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