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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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es hier nicht, nichts konnte atmen, wachsen oder einen eigenen Willen haben.
    Der Wärter ging voraus, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen, um sich zu vergewissern, ob Rathbone ihm noch folgte. Aber wer hätte auch schon den Wunsch verspürt, allein durch dieses Labyrinth von Korridoren zu wandern, die einander glichen und alle ins Nichts führten?
    Schließlich blieb der Mann vor einer Tür stehen, wählte von der an seinem Gürtel baumelnden Schlüsselkette den passenden Schlüssel aus und entriegelte die eiserne Tür. Sie öffnete sich mit einem Ächzen.
    »Danke«, sagte Rathbone knapp und schritt an ihm vorbei. »Ich werde klopfen, wenn ich bereit bin zu gehen.«
    Der Mann nahm die Mitteilung mit einem wortlosen Nicken zur Kenntnis und knallte die Tür zu. Das Scheppern des Riegels beim Einrasten war genauso laut, wie es das Dröhnen von Eisen auf Stein gewesen war.
    Die Zelle war, abgesehen von zwei Holzstühlen und einem von Schrammen und Einkerbungen übersäten kleinen Tisch, so gut wie leer. Von den Tischbeinen war eines kürzer als die drei anderen, sodass das Möbel bedenklich wackelte, als Rathbone es berührte, und erst nach einer ganzen Weile wieder zur Ruhe kam.
    Rupert Cardew stand in der Mitte des kleinen Raumes. Er trug das Hemd und die Hose, in denen man ihn verhaftet haben musste, und war unrasiert. Doch seine Haltung war aufrecht, und er blickte Rathbone in die Augen.
    »Ich bin auf Bitten Ihres Vaters gekommen«, begann der Anwalt. Er war es gewöhnt, eines Verbrechens beschuldigte Männer und Frauen unter Umständen wie diesen kennenzulernen, aber in all den Jahren war das nicht leichter geworden. Bei den meisten seiner Mandanten in den größeren Fällen war es der erste Gefängnisaufenthalt, und der Schock versetzte sie entweder in regelrechte Starre oder in eine Panik, die fast schon an Hysterie grenzte. Allzu oft überschattete die Aussicht auf die Henkersschlinge jede Vernunft und Hoffnung. Selbst die Unschuldigen hatten grässliche Angst. Man hatte kein Vertrauen in die Urteilskraft der Justiz, wenn das eigene Leben auf dem Spiel stand.
    Rupert nickte. Ihm fiel das Sprechen schwer. Als er schließlich Worte herauspresste, brach seine Stimme immer wieder, und er drohte ständig, die Kontrolle über sich zu verlieren.
    »Ich … wusste, dass er … helfen würde. Mir ist nur nicht klar, was Sie tun können. Die Beweise scheinen … erdrü…« Er atmete tief durch. »Wenn ich Monk wäre, würde ich dasselbe glauben wie er. Das Halstuch gehört mir, keine Frage.«
    Ruperts Anspannung war fast mit Händen zu greifen. Rathbone zog einen Stuhl näher zu sich heran und deutete auf den anderen. »Setzen Sie sich, Mr Cardew. Sie müssen mir so viel wie möglich erzählen, am besten von Anfang an. Oder ist es leichter für Sie, wenn ich Ihnen Fragen stelle?«
    Rupert nahm sich den Stuhl und schien gar nicht zu hören, wie laut dessen Beine über den Boden kratzten. Dann setzte er sich mühsam. Dabei stützte er die Hände auf dem Tisch ab. Sie waren schlank, doch kräftig. Mit Hochachtung registrierte Rathbone, dass sie nicht zitterten.
    »Sie zweifeln nicht an, dass es Ihr Halstuch war?«, fragte der Anwalt.
    »Nein«, antwortete Rupert mit einem gequälten Grinsen. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es viele von dieser Art gibt. Es ist ein Geschenk meines Vaters. Ohne Zweifel hat er es eigens anfertigen lassen. Sein Schneider dürfte einen Eid darauf leisten.«
    »Ich verstehe.« Rathbone war nicht im Geringsten überrascht, obwohl es natürlich von Vorteil gewesen wäre, wenn sich das Indiz hätte anfechten lassen. »Wann haben Sie an dem bewussten Abend Ihr Zuhause verlassen?«
    »Ich dachte mir schon, dass Sie mich das fragen würden. Früh. Es war ein herrlicher Abend.« Rupert schnitt eine Grimasse. Ein Lächeln brachte er nicht zuwege. »Ich bin bestimmt eine Stunde über den Fluss gefahren – wenn nicht noch länger. Ich verlor jedes Zeitgefühl …«
    Rathbone gebot ihm mit erhobener Hand Schweigen. »Über den Fluss – wohin? Sie leben doch überhaupt nicht in der Nähe von Chiswick.«
    »Natürlich nicht. Wer, zum Henker, lebt schon in Chiswick? Ich wohne in Chelsea: Cheyne Walk, um es genau zu sagen. Aber ich hatte keine Lust, am Embankment spazieren zu gehen. Dort wäre ich nur einem halben Dutzend Leute über den Weg gelaufen, die mit mir über Politik oder den neuesten Klatsch hätten reden wollen. Also nahm ich ein Boot stromaufwärts. Seitdem habe ich mir

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