Einer trage des anderen Schuld
rechtfertigen. »Jeder verdient eine Verteidigung, Margaret. Der Grundsatz Im Zweifel für den Angeklagten muss immer gelten, bis seine Schuld bewiesen ist. Je schwerer das Verbrechen, desto dringlicher das Gebot absoluter Gerechtigkeit.«
»Natürlich verdient er es, verteidigt zu werden!«, rief sie mit zornblitzenden Augen. »Aber doch nicht von dir ! Du bist der beste Anwalt von London, vielleicht sogar im ganzen Land. Allein schon deine Teilnahme wird die Aufmerksamkeit auf den Prozess lenken und die Leute glauben lassen, es gäbe etwas Gutes über dieses abstoßende Geschäft zu sagen. Wie immer du dich auch auf die Feinheiten der Gesetze berufen magst, die überwältigende Mehrheit der Öffentlichkeit wird glauben, du würdest es wegen seines Titels und seines Geldes tun und nicht aufgrund eines echten Glaubens an seine Unschuld.«
»Niemand, der mich kennt, wird das annehmen«, erwiderte Rathbone mit einem eisigen Unterton. Margarets Anschuldigung verletzte ihn. Es überraschte ihn, dass sie so dachte.
»Aber die meisten kennen dich nicht«, konterte sie; in der Mitte ihrer Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet. »Sie werden einfach die leichteste Schlussfolgerung ziehen.«
»Und ihnen soll ich nach dem Mund reden?«, fragte er.
»Jetzt übertreibst du aber«, erwiderte sie kühl. »Ich habe nicht gesagt, dass du jeder Laune der öffentlichen Meinung folgen sollst, sondern nur, dass du es nicht nötig hast, jeden Verbrecher zu verteidigen, bloß um zu beweisen, dass die Gesetze geachtet werden müssen. Lass doch jemand anders Rupert Cardew vertreten.«
»Du meinst, wir können ihn ruhig hängen und dann heimgehen und trotzdem gut schlafen?«
»Ja, das meine ich allerdings!« Sie führten jetzt ein regelrechtes Gefecht mit Angriffen und Vergeltungsschlägen. »Und wenn jemand gehängt werden soll, dann hat Rupert Cardew das verdient. Der Missbrauch von Kindern für Prostitution und Pornografie ist bestialisch.« Sie beugte sich weit über ihren Teller. Das Essen war völlig in Vergessenheit geraten. »Und sag mir nicht, er hätte nicht aktiv daran teilgenommen. Das ist irrelevant, Oliver, und das weißt du auch. Er wusste Bescheid, und er hat nichts dagegen getan. Er hätte die Polizei holen und das Ganze öffentlich machen können, aber nein, stattdessen hat er es vorgezogen, Parfitt zu ermorden, um sich die eigene Bloßstellung und die seiner Freunde, die genauso schlimm sind wie er, zu ersparen. Du kannst ihn nicht verteidigen, weil es da nichts zu verteidigen gibt.«
Benommen verfiel er in Schweigen.
»Ich nehme an, Lord Cardew hat dich darum gebeten«, fuhr sie fort. »Und du warst zu weichherzig, um ihm das abzuschlagen. Natürlich glaubt der arme Mann an die Unschuld seines Sohnes. Könnte er es denn ertragen, etwas anderes zu glauben?«
»Vielleicht hat er ja recht«, sagte Rathbone leise und legte sein Besteck auf den Teller. Er hatte seine Portion nur zur Hälfte gegessen, der Appetit war ihm vergangen.
»Unsinn«, knurrte Margaret. »Und die Köchin wird gekränkt sein, wenn du nicht mehr als einen Anstandshappen isst.«
»Sag ihr, dass ich krank bin. Nein, weißt du, was – ich sag’s ihr selbst.« Er erhob sich. Der Gedanke daran, weiter in bitterem Schweigen am Tisch sitzen zu bleiben, war so unerfreulich, dass er sich lieber zu seiner Arbeit rettete. Dafür war ihm jede Ausrede recht. »Wie du mir erklärt hast, wird es extrem schwierig sein, eine glaubwürdige Verteidigung aufzubauen. Und wenn ich nichts Vernünftiges zustande bringe, lasse ich nicht nur Rupert Cardew und seinen Vater im Stich, sondern schädige darüber hinaus meinen eigenen Ruf. Und das kann ich mir nicht leisten.« In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Du brauchst nicht auf mich zu warten. Es wird wahrscheinlich eine lange Nacht.«
Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber anders. So sollte er nie erfahren, ob es eine Entschuldigung gewesen wäre oder nicht. Er zog es vor, Ersteres zu glauben. Gleichwohl schienen das Lachen und die Vertrautheit des letzten Abends eine Ewigkeit zurückzuliegen und ließen sich nicht einmal in dem Teil des Gedächtnisses zurückrufen, in dem die Schätze aufbewahrt werden.
6
Hester fühlte sich befangen, als sie am nächsten Vormittag um zehn Uhr auf den Stufen von Lord Cardews Haus im Cheyne Walk stand. Es war ein sonniger, windiger Tag, und der mit der Flut ansteigende Fluss war aufgewühlt. Vergnügungsboote tanzten auf und ab, die
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