Einer trage des anderen Schuld
sieht, kann man danach nicht mehr vergessen.«
Sie bedachte ihn mit einem winzigen Lächeln. »Ich werde nichts gegen meinen Willen tun, Lord Cardew. Danke, dass Sie so freundlich waren, mich zu empfangen.«
Tief in Gedanken versunken kehrte sie nach Hause zurück. Lord Cardews größter Wunsch war es, an Ruperts Unschuld zu glauben, doch das konnte er nicht.
Denn so wie Monk das verknotete Halstuch beschrieben hatte, handelte es sich nicht um ein aus Furcht oder Panik begangenes Verbrechen. Es dauert mehr als ein paar Sekunden, um in ein Seidenhalstuch ein halbes Dutzend feste Knoten zu knüpfen. Wer würde schon eine solche Waffe schaffen und dabei ein wertvolles Kleidungsstück ruinieren, wenn nicht mit dem Vorsatz, sie zu benutzen? Wer sich auf Notwehr berief, hätte nicht den Hauch einer Chance, sich gegen dieses Argument durchzusetzen, es sei denn, Rupert wäre irgendwo gefangen gehalten worden, ohne gefesselt oder beobachtet zu werden, und hätte reichlich Zeit gehabt, die Vorbereitungen für den Mord zu treffen.
Sie hatte sofort ihre Hilfe angeboten, weil sie von Rupert nur seine Freundlichkeit, seinen Witz und seine unaufdringliche Großzügigkeit in Erinnerung hatte. Aber wie gut kannte sie ihn wirklich? Alle möglichen Leute konnten sich charmant geben. Das erforderte Fantasie, Verständnis und die Fähigkeit, zu erkennen, worüber andere sich freuten, und vielleicht eine Prise Humor sowie Geistesgegenwart. Nicht zwingend erforderlich waren Ehrlichkeit oder der Wille, die Interessen anderer den eigenen voranzustellen. Während sie jetzt im Rückblick das Bild von Rupert Cardew wieder vor sich auferstehen ließ, fiel ihr ein, dass er eine gewisse Nervosität an sich gehabt hatte. Immer wieder war er plötzlich ihren Blicken ausgewichen, was sie damals als Zeichen von Verlegenheit angesichts der ungewohnten Umgebung einer Klinik gewertet hatte. Aber vielleicht hatte es an der Scham über sein eigenes Tun gelegen, das hässlicher gewesen war als alles, was diese Frauen erlitten hatten.
Ihre Gedanken wanderten in eine neue Richtung. Zu den Dingen, die sie Lord Cardew nicht sagen konnte, gehörte der Umstand, dass sie ihre eigenen Gründe hatte, warum sie wissen musste, was genau mit Mickey Parfitt geschehen war. Wenn der Täter so wie Rupert zu seinen Opfern gehört hatte, dann war die Sache für ihn mit dem Mord abgeschlossen. Handelte es sich jedoch um einen Rivalen oder womöglich um den Mann, der ihm den Kauf des Bootes finanziert hatte, würde es einen kurzen Aufschub geben, bis der Mord an Parfitt geklärt war und die Aufregung darum sich gelegt hatte, ehe das ganze schmutzige Geschäft wieder von vorn begann. Der einzige Unterschied wäre, dass es dann andere Männer hinter den Kulissen betreiben würden und das Boot vermutlich den Standort gewechselt hätte. Aber um Scuffs willen musste sie die Gewissheit haben, dass es vorbei war. Die Alpträume würden erst dann aufhören, wenn der Junge auch die Leichen derer gesehen hatte, die hinter Leuten wie Jericho Phillips oder Mickey Parfitt standen.
Und wie kam hier Rupert Cardew ins Spiel? Wusste er mehr, oder war er nur eines von vielen Opfern, wenn auch eines, das zurückgeschlagen hatte und dafür sterben sollte?
Als sie zu Hause ankam, saß Scuff in der Küche und verzehrte eine dicke Scheibe Brot mit Butter und einem Berg von Marmelade darauf. Sobald er sie bemerkte, hörte er auf zu kauen, was nichts daran änderte, dass sein Mund voll war und er das Brot mit beiden Händen hielt.
Hester versuchte, ein Lächeln zu verbergen. Endlich fühlte sich der Junge heimisch genug, um sich etwas zu essen zu nehmen, wenn ihm danach war. Sie würde allerdings darauf achten müssen, dass sein Appetit sich auf Brot beschränkte und nicht auf anderes ausweitete – wie zum Beispiel den kalten Braten, den sie für das heutige Abendbrot beiseitegestellt hatte.
»Gute Idee«, sagte sie beiläufig. »Ich nehme mir auch eine Scheibe. Möchtest du eine Tasse Tee dazu? Ich nämlich schon.« Sie ging an ihm vorbei zum Herd, füllte den Kessel und stellte ihn aufs Feuer.
Er schluckte deutlich vernehmbar.
»Jaaa«, meinte er lässig. »Soll ich die Scheibe für Sie runterschneiden?«
»Gern. Aber ich nehme ein bisschen weniger Marmelade, wenn es dir nichts ausmacht.« Sie wandte sich ihm nicht zu, um ihn bei der Arbeit zu beobachten, sondern konzentrierte sich darauf, den Tee zuzubereiten.
»Wo waren Sie denn?«, erkundigte er sich, um einen sorglosen Ton
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