Einer trage des anderen Schuld
Leute hielten ihre Hüte fest, Bänder flatterten. Die rostroten Segel einer Barge blähten sich, ihr Rumpf neigte sich zur Seite.
Hester hatte schon oft die Nachricht vom Tode eines Menschen überbracht, ebenso von Verstümmelungen, Verbrennungen und Entstellungen. Eine einfache Art, mit Kummer umzugehen, gab es nicht; und nichts zu sagen, das änderte auch nichts daran. Wenn die Wunden mit der Zeit heilten, geschah das nur von innen.
Es war schwierig, mit jemandem zu sprechen, dessen einziges lebendes Kind eines abscheulichen Verbrechens wie diesem Mord beschuldigt wurde. Wenn Rupert einen Gegner in einem erbitterten Kampf oder kaltblütig aus Rache getötet hätte, wäre das schon schlimm genug gewesen. Aber mit einem so fürchterlichen Mann wie Mickey Parfitt in Verbindung gebracht zu werden, ihn gekannt und seine Dienste genutzt zu haben, ohne ein Wort darüber zu verlieren, hinterließ einen Schandfleck, der sich nie tilgen lassen würde.
Und doch hielt sie es für eine nicht hinnehmbare Grausamkeit, den Kummer des Vaters zu ignorieren, als wäre er ohne Bedeutung und eine Peinlichkeit, der man besser aus dem Weg ging.
Ein Butler öffnete die Tür. Seine Miene war verschlossen, auch wenn sein Blick die Bürde, die auf dem Haus lastete, bereits ahnen ließ.
»Guten Morgen, Madam. Womit kann ich Ihnen dienen?«
»Guten Morgen.« Sie zeigte ihm ihre Karte. »Mr Rupert Cardew war immer außerordentlich großzügig zu mir und der Klinik für die Armen, die ich leite. Nun scheint es ein angemessener Anlass zu sein, Lord Cardew jeden Dienst anzubieten, den ich für ihn leisten kann.« Sie schenkte ihm ein knappes Lächeln, das genügen musste, um ihren guten Willen zu zeigen.
Der Butler entspannte sich. »Gewiss, Madam. Wenn Sie eintreten möchten, werde ich seine Lordschaft unverzüglich über Ihre Anwesenheit informieren.«
Hester legte ihre Karte auf das kleine silberne Tablett neben de r T ür, dann folgte sie dem Butler durch die Vorhalle mit dem geschnitzten Kaminsims und dem meisterlich gefertigten Stuck an Decke und Fries. Im Frühstückszimmer, wo bereits eingeschürt worden war, forderte er sie auf zu warten. Hester betrachtete die ausgebleichten Teppiche und mit Meeresmotiven tapezierten Wände, die zahlreichen Bücherschränke, die mit Goldbuchstaben in allen passenden und unpassenden Größen beschrifteten Buchrücken. Sie erkannte auf den ersten Blick, dass diese Werke gekauft worden waren, um sie zu lesen, und nicht, um damit zu protzen.
Der Butler entschuldigte sich und schloss die Tür. Unter anderen Umständen hätte Hester sich die Titel der Bücher genauer angeschaut; es war immer interessant zu wissen, was andere Leute lasen, doch heute konnte sie sich nicht darauf konzentrieren. Obwohl völlige Stille herrschte, bildete sie sich ein, in der Vorhalle Schritte zu hören. Angestrengt suchte sie nach Formulierungen, die nicht nach einer oberflächlichen Person klangen, die keinen Begriff von Schmerz und Tragödie hatte.
Sie wanderte vom Bücherschrank zurück zum Fenster und starrte gedankenverloren in den Garten hinaus, als unvermittelt die Tür geöffnet wurde. Sie fuhr erschrocken herum.
»Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie habe warten lassen, Mrs Monk«, sagte Lord Cardew leise und schloss die Tür hinter sich.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie mich überhaupt empfangen«, antwortete sie. »Es hätte mich nicht überrascht, wenn Sie das abgelehnt hätten. Vor allem, da ich seit meiner Ankunft hier kaum noch weiß, was ich Sinnvolles sagen soll; außer dass ich, wenn ich irgendwie hilfreich sein könnte, das gerne wäre.«
Cardew wirkte erschöpft. Seine Haut erinnerte an Papier, als wäre all sein Blut ausgetrocknet und sein Fleisch tot. Aber was Hester am schmerzlichsten berührte, war die Leere in seinen Augen. Sie hatten etwas Gestaltloses, Panisches an sich, eine Verzweiflung, die zu mächtig war, als dass er damit fertig werden konnte.
»Danke für Ihr Angebot, aber ich weiß nicht, was andere da tun könnten«, antwortete er. »Doch Ihre Freundlichkeit ist ein kleines Licht in einer endlosen Dunkelheit.«
Er war ein schlanker Mann. Früher musste er die Eleganz und Geschmeidigkeit eines Offiziers besessen haben. In vielem erinnerte er sie an die Soldaten, die sie auf der Krim kennengelernt hatte. Doch der Krieg dort schien jetzt in eine andere Zeit zu gehören. Unwillkürlich musste sie beim Anblick Cardews an ihren Vater denken, was vielleicht nur daran lag, dass
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