Einer trage des anderen Schuld
er unter der Last seines finanziellen Ruins auch älter ausgesehen hatte, als er war.
In einer Zeit, als ihr Vater sie am dringendsten gebraucht hätte, war sie nicht zu Hause gewesen. Er war allein gestorben, während sie in Sewastopol Fremde gepflegt hatte. Er hatte Leuten vertraut, bei denen Vertrauen überhaupt nicht angebracht war, sodass ihn ein Mann mit allem Anschein von Ehre um sein ganzes Hab und Gut betrogen hatte. Ihr Vater war nur eines von vielen Opfern dieses Mannes gewesen, doch als er die Schulden nicht mehr begleichen konnte, zerbrach er seelisch daran. Am Ende sah er nur noch einen einzigen möglichen Ausweg: sich selbst das Leben zu nehmen.
Auch das hatte Hester nicht verhindern können, weil sie nicht daheim gewesen war. Ebenso wenig hatte sie ihrer Mutter in deren Kummer beistehen können. Aber nie hatte ihr irgendjemand Vorwürfe gemacht. Nur sie selbst mit ihrem Wissen um ihre Abwesenheit in einer Zeit der Not hielt die Wunde offen.
»Wir können herausfinden, was tatsächlich geschehen ist«, versprach sie impulsiv. »So einfach, wie es aussieht, kann es nicht gewesen sein. Entweder war es jemand anderes, der Parfitt ermordet hat, und dann kann Rupert nicht wissen, wer es war, oder aber Rupert kennt ihn sehr wohl, schützt ihn jedoch, weil er das für das einzige Richtige hält. Möglich ist schließlich auch, dass Rupert tatächlich Parfitt umgebracht hat, und zwar aus einem Grund, der die Tat nur allzu verständlich erscheinen lassen würde.« Sie hielt inne, damit Cardew antworten konnte.
Ruperts Vater kämpfte mit einem Gefühl, das so schmerzhaft war, dass es sich auf seinem Gesicht abzeichnete. »Meine liebe Mrs Monk, bei all Ihrer Hilfe für die armen Frauen, die sich in ihrer Not an Sie wenden, können Sie keinen Begriff davon haben, in was für einer Welt Männer wie Parfitt hausen. Ich kann nicht verantworten, dass Sie in einen solchen Sumpf der Abscheulichkeiten stolpern, nicht einmal aus Zufall. Aber Ihre Liebenswürdigkeit berührt mich zutiefst. Ihre Anteilnahme ist …«
»Zwecklos«, unterbrach sie ihn sanft, »wenn Sie mir verwehren, die Hilfe zu leisten, zu der ich in der Lage bin. Ich bin Krankenschwester auf dem Schlachtfeld gewesen, Lord Cardew. Nach Balaclava bin ich zwischen den Toten und den Sterbenden hin und her gelaufen. Ich habe trotz der Ratten, der Hungersnot und der Seuchen im Krankenhaus von Sewastopol gearbeitet. Ich habe hier, in den Slums von London, in einem Fieberkrankenhaus Menschen gepflegt, und ich habe in einer Klinik eingeschlossen ausgeharrt, bis die Beulenpest vorbei war. Bitte sagen Sie mir nicht, was ich für einen Freund, der eindeutig in Not ist, tun kann und was nicht.«
Darauf fiel ihm keine Antwort ein. Hester war für ihn ein Paradebeispiel für all das Mitgefühl, das er an den Frauen idealisierte, doch zugleich durchbrach sie die einzige Struktur, mit der er vertraut war.
Sie nutzte die Gelegenheit, um weiterzureden. »Ich weiß zumindest ein wenig über das Bescheid, was auf diesen Booten getrieben wurde, Lord Cardew. Ich war dabei, als Jericho Phillips verhaftet wurde, entkam und dann ermordet wurde. Wenn Mickey Parfitt vom selben Schlage war, lässt sich vieles zur Verteidigung desjenigen vorbringen, der die Welt von einer Plage wie ihm befreit hat. Aber um Rupert vor Gericht zu verteidigen, müssen wir die ganze Wahrheit wissen. Sie haben vollkommen recht mit der Vermutung, dass die Schandtaten einer Kreatur wie Parfitt das Wissen und das Vorstellungsvermögen der für die Geschworenenbank ausgewählten Männer übersteigen.«
»Die Polizei wird doch sicher …«
»Es ist nicht ihre Aufgabe, mildernde Umstände ausfindig zu machen, sondern nur, Beweise zu liefern. Hat Rupert Ihnen Näheres geschildert? Ich könnte mir vorstellen, dass ihm nicht unbedingt danach war.«
»Es ist ein bisschen zu spät dafür, meine Gefühle zu schonen«, bemerkte Lord Cardew trocken, den Hauch eines Lächelns in den Augen. »Ich würde alles hergeben, was ich habe, könnte ich ihm nur glauben, aber …« Er wandte den Blick ab und richtete ihn dann erneut auf Hester. Langsam füllten sich seine Augen mit Tränen. »Aber seine früher getroffene Entscheidung macht das unmöglich. Es tut mir leid, Mrs Monk, aber ich sehe keine Möglichkeit, wie Sie helfen könnten. Es wäre mir lieber, Sie würden sich keinen Gefahren aussetzen, ob persönlich oder in Form der Seelenqualen, die solches Wissen bei Ihnen auslösen könnte. Die Dinge, die man
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