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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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bekannt war, konnte sie ihn einfach nicht »Sir« nennen. Abgesehen davon glaubte sie nicht, dass er das wünschte. Sollte sie sich etwa dafür entschuldigen, dass sie aussah wie eine Dienstmagd? Ihre Freundschaft war noch sehr jung, aber sie hatte ihn auf Anhieb gemocht, auch wenn ihr klar gewesen war, dass seine Wohltätigkeit der Klinik gegenüber zumindest teilweise von einer beruflich bedingten Vertrautheit mit einigen ihrer Patientinnen herrührte – wobei diesbezüglich sie beruflich tätig waren und nicht er. Sein Vater, Lord Cardew, genoss genügend Wohlstand und eine entsprechende Stellung, um seinem einzigen noch lebenden Sohn ein Dasein frei vom Zwang zur Arbeit zu ermöglichen. So vergeudete Rupert seine Zeit, seine Mittel und seine Talente mit Charme und Großzügigkeit, hatte allerdings in letzter Zeit einen Teil seiner bisherigen Leichtigkeit eingebüßt.
    »Ich habe nicht gebetet«, stellte Hester den Sachverhalt klar und sah betrübt auf ihre nassen und ziemlich roten Hände hinab. »Vielleicht hätte ich einen stärkeren Glauben zeigen sollen? Danke.« Sie nahm den beträchtlichen Geldbetrag, den er ihr reichte, erfreut entgegen. Auf das Zählen verzichtete sie, denn das Bündel in ihrer Hand enthielt deutlich erkennbar mehrere hundert Pfund in Scheinen von der königlichen Notenpresse.
    »Vergnügungsschulden«, erklärte Cardew mit einem breiten Grinsen. »Sagen Sie, müssen Sie das wirklich selbst machen?« Er wies mit einer Kopfbewegung auf den Eimer am Boden.
    »Eigentlich tut das sogar gut«, antwortete sie ihm. »Vor allem, wenn man verärgert ist. Man kann sich ein wenig austoben und danach sehen, was man vollbracht hat.«
    Sein Grinsen wurde noch breiter. »Dann werde ich es bei meinem nächsten Wutanfall vielleicht auch mal ausprobieren.« Und in einem freundlichen, scherzenden Ton fügte er hinzu: »Sie waren doch Krankenschwester bei der Armee, nicht wahr? Man hätte Sie dort dem Feind auf den Hals hetzen sollen. Die hätten sich aus Angst vor Ihnen in die Hosen gemacht.« Er wechselte das Thema. »Möchten Sie eine Tasse Tee? Ich hätte Kuchen mitbringen sollen.«
    »Brot und Marmelade?«, schlug sie vor. Ein paar Minuten Pause und dazu seine leichte, oberflächliche Art der Konversation würden ihr jetzt guttun. Er erinnerte sie an die jungen Kavallerieoffiziere, die sie auf der Krim kennengelernt hatte: charmant, lustig, scheinbar sorgenfrei, doch unter der Oberfläche verzweifelt darum bemüht, nicht an das Morgen oder Gestern und an die Freunde zu denken, die sie verloren hatten oder noch verlieren würden. Doch soweit sie wusste, hatte Rupert keinen Krieg auszufechten und auch keine Schlacht, die es wert war, gewonnen oder verloren zu werden.
    »Was für Marmelade?«, erkundigte er sich, als ob das eine Rolle spielte.
    »Schwarze Johannisbeere. Oder vielleicht Himbeere.«
    »Sehr gut.« Zu ihrer Überraschung bückte er sich nach dem Eimer und nahm ihn ihr ab, wobei er peinlich darauf achtete, ihn möglichst weit von seinem Körper wegzuhalten, um sich nicht die perfekt geplättete Hose zu verschmutzen oder die blitzsauberen Stiefel zu bespritzen.
    Hester verschlug es die Sprache. Noch nie hatte sie ihn dabei erlebt, dass er eine niedere Aufgabe der Achtung wert fand, geschweige denn sich dafür hergab, sie eigenhändig auszuführen. Sie fragte sich, was ihn heute dazu veranlasst haben mochte. Bestimmt nicht irgendein Zeichen von Verletzlichkeit an ihr. Dergleichen war ihm noch nie aufgefallen.
    Vor der Tür zur Spülküche stellte er den Eimer ab. Das Ausleeren konnte warten, bis jemand anders kam.
    In der Küche schob Hester als Erstes den Wasserkessel auf den Heizring des Kohleherds, dann begann sie Brot zu schneiden. Sie schlug vor, es zu rösten, und reichte ihm eine Gabel, damit er die Scheiben aufspießen und vor das offene Feuerloch halten konnte.
    Sie unterhielten sich ungezwungen über die Klinik und einige der frisch eingelieferten Fälle. Rupert zeigte Mitleid mit den leidenden Straßenmädchen, obwohl er doch zu denjenigen gehörte, die ihre Dienste gern in Anspruch nahmen und damit auch den Umstand akzeptierten, dass ihre Not sie zwang, das Einzige, was sie besaßen, zu verkaufen.
    Bei Tee, Toast und Marmelade wanderte ihr Gespräch bald zu anderen Themen, die weniger auffällige Kontraste und Anlass zu Spannungen boten: Klatsch, Orte, die beide besucht hatten, Kunstausstellungen. Rupert interessierte sich für alles. Er hörte genauso liebenswürdig zu, wie er

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