Einer trage des anderen Schuld
schluckte. Dann konnte es nicht Rupert gewesen sein. Rupert war etwas über dreißig, jünger als sie. »Sind Sie sicher?« Sie wollte Zeit gewinnen, suchte verzweifelt nach einer Ausrede für die Bitte, den Mann ausführlich zu beschreiben.
Der Fährschiffer sog die Wangen ein, um sie dann wieder aufzublähen. »Na ja, vielleicht hätt ich das nich’ sagen sollen. Er sah ja immer noch recht imposant aus.«
»Blondes Haar?«, fragte Hester, das Bild von Rupert vor Augen, wie er in der Klinik in der Sonne stand. »Schlank und ziemlich groß?«
»Nein«, widersprach der Fährmann entschieden. »Tut mir leid, Mädchen, aber er dürfte um die sechzig gewesen sein; dunkles Haar, fast schwarz, soweit ich das im Lampenlicht erkennen konnte. Und breit war er, aber nich’ ungewöhnlich groß, eher normal groß, würde ich sagen.«
Da der Fährmann von ausgesprochen kleinem Wuchs war, fragte sich Hester, was er als durchschnittlich bezeichnen würde. Doch jetzt weiter nachzubohren verbot sich von selbst. Womöglich würde er das als Beleidigung auffassen.
»Ist er später noch einmal zurückgekommen?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln. Da jetzt Klarheit bestand, dass nicht von dem ehebrecherischen Ehemann die Rede war, den sie mit ihren Andeutungen herbeibeschworen hatte, sah sie sich unversehens in Verlegenheit gestürzt. Doch dann hatte sie eine Idee. »Verstehen Sie, ich habe die Sorge, dass es mein Vater gewesen sein könnte. Er ist schrecklich jähzornig, und …« Den Rest ließ sie ungesagt, sodass er als Andeutung in der Luft schwebte. »Er war doch nicht … verwundet, oder?«
»Da haben Sie sich ja die Richtigen ausgesucht, was?«, meinte der Fährmann schulterzuckend. »Aber ihm hat nix gefehlt. Vielleicht ein bisschen zerzaust, als ob er in ’ne kleine Rangelei geraten wär, aber ansonsten war er munter wie’n Fisch im Wasser. Da brauchen Sie sich keine Sorgen machen. Über den jungen Kerl mit den blonden Haaren kann ich Ihnen nix sagen. Den habe ich nich’ gesehen.«
»Vielleicht war er gar nicht hier.« Hester atmete vor Erleichterung auf. Dass ihre Reaktion trotz aller Freude töricht war, wusste sie selbst. Was war diese Nachricht denn schon wert? Von hundert Schwierigkeiten war ihnen nun eine erspart geblieben.
»Was bedeutet das?«, fragte Scuff, nachdem sie sich bei dem Mann bedankt und auf dem Weg den Fluss entlang entfernt hatten. »Ist das gut?«
»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Hester. Zumindest das war wahr. »Rupert war es jedenfalls nicht. Sogar bei tiefster Dunkelheit kann man ihn nicht mit einem Sechzigjährigen verwechseln. Und wenn der Mann zerzaust war, dann hatte er sicher einen Kampf hinter sich, den er, wie sich das anhört, gewonnen hatte.«
»Vielleicht hat er Mickey Parfitt erstickt und über die Kante geschmissen?«
»Vielleicht hat er Mickey Parfitt niedergeschlagen, dann mit einer verknoteten Seidenkrawatte erdrossselt und am Ende über die Kante befördert«, verbesserte ihn Hester.
Der Junge erschauerte. »Waren auch noch andere Leute auf dem Boot?«
»An diesem Abend offenbar nicht, bis auf die unter Deck eingesperrten Jungen.«
Scuff zögerte. »Wo sind die denn jetzt?«
Hester hörte die Anspannung in seiner Stimme, sah die schreckliche Erinnerung in seinen Augen. »Sie sind alle in Sicherheit«, sagte sie entschieden. »Sie werden gut versorgt, sind sauber und bekommen genug zu essen.«
Nach einem Moment schien Scuff bereit, ihr zu glauben. Nach und nach lösten sich die Verspannungen an seinen Schultern. »Wer war das dann also? War es der Mann, der Mickey Parfitt umgebracht hat?«
»Durchaus möglich.«
»Und wie finden wir raus, wer das war?«
»Da habe ich schon eine Idee. Aber für heute gehen wir erst mal heim.«
»Wir suchen ihn nich’?« Er zitterte leicht und versuchte, sich aufrecht zu halten, um sich nichts anmerken zu lassen. Und ganz bewusst zog er seine Jacke fester zu, obwohl es nicht kalt war.
»Zuerst muss ich William noch ein paar Fragen stellen. Da ich nicht glaube, dass ich die Gelegenheit, den Kerl zu stellen, zweimal bekomme, muss ich gleich beim ersten Mal alles richtig machen.«
»Er wird Ihnen das nich’ erlauben«, warnte Scuff. »Wenn ich er wäre, würde ich’s Ihnen verbieten.«
»Wetten, dass nicht.« Diesmal machte sich Hester gar nicht erst die Mühe, ihr Lächeln zu verbergen. »Das ist der Grund, warum ich ihn nicht fragen werde, und du genauso wenig.«
»Das könnte ich aber.«
Sie maß ihn mit einem
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