Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
gepflegt, fast glitzernd in dem vom Wasser reflektierten, grellen Licht. Oberflächlich besehen schien es eine ganz andere Welt als das dunkle Flussufer zu sein, wo Jericho Phillips sein Boot betrieben hatte. Dort schwemmten die Gezeiten all die Abfälle des Hafens an – zersplittertes Treibholz, das teilweise halb versunken war, Kleiderfetzen und Seilstücke, Nahrungsabfälle und Fäkalien. Sogar in der Nacht herrschte hier der Lärm der Stadt: das Trappeln von Hufen auf Pflastersteinen, Rufe, Gelächter, das Klappern von Rädern. Und natürlich gingen die Lichter nie aus, brannten unentwegt Straßenlampen, Kutschenlampen; nur wenn der Nebel sich hereinwälzte, wurden sie erstickt. Doch dann erhob sich das klagende Dröhnen der Nebelhörner.
    Hier war der Fluss weniger breit. Weiter unten gab es am Nordufer Schiffswerften. Die Geschäfte waren geöffnet und belebt; gelegentlich fuhr ein Karren vorbei; auch hier wurde laut gerufen. Aber all das fand in einem überschaubaren Rahmen statt. Was fehlte, waren die Gerüche aus den Kaminen von Fabriken, von Salz und von Fisch und das Schreien der Möwen. Ein vereinzelter Frachtsegler glitt auf dem Fluss vorbei, die Segel fast schlaff in der Brise.
    Scuff konnte sich nicht sattsehen an den Frauen in ihren sauberen, hellen Kleidern, die umherspazierten und lachten, als hätten sie sonst nichts zu tun.
    Hester und Scuff aßen erst einmal ein spätes Mittagsmahl, bestehend aus kaltem Wildbret, Gemüse und – eine besondere Gaumenfreude – einem ganz leichten Ale.
    Scuff trank sein Glas leer, leckte sich beim Abstellen die Lippen und blickte Hester erwartungsfroh an.
    »Wenn du älter bist«, sagte sie.
    »Wie lang dauert das Älterwerden?«, fragte er.
    »Das tust du die ganze Zeit.«
    »Ja, aber bis ich wieder so ein Glas kriege?« Er hatte nicht vor nachzugeben.
    »Ungefähr drei Monate.« Sie hatte Mühe, nicht zu lächeln. »Aber ein Stück Apfelkuchen kannst du schon jetzt haben, wenn du möchtest. Oder Pflaumenkuchen, wenn dir das lieber ist.«
    Er beschloss, sein Glück herauszufordern. Die Stirn in Falten gelegt, blickte er zu ihr auf. »Alles beides?«
    Sie dachte an den Weg, der ihnen noch bevorstand, und an den Grund dafür. »Gute Idee. Ich glaube, ich mache es wie du.«
    Als ihre Teller bis zum letzten Krümel leer gegessen waren, zahlte Hester die Rechnung. Scuff bedankte sich ernst und bekam einen Schluckauf. Dann gingen sie zum Fluss hinunter und begannen ihre Suche nach Fährmännern, Fischern, irgendjemandem, der sich am Rand des Wassers aufhielt, plauderte, an Booten oder Segeln werkelte oder einfach zuschaute, wie der Nachmittag vorüberglitt.
    Mehr als zwei vergnügliche, aber unergiebige Stunden vergingen, bis sie den o-beinigen Fährmann entdeckten, der in seiner Aussage angegeben hatte, er hätte in der Nacht vor dem Morgen, als Mickey Parfitts Leiche in Corney Reach gefunden wurde, noch sehr spät einen feinen Herrn aus der City zum Boot hinausgerudert.
    »Ich kenn seinen Namen nich’, Madam«, sagte der Mann misstrauisch. »Ich frag die Leute nie, wie sie heißen – hab ja auch keinen Grund dazu, oder! Ich frag sie auch nich’, wo’s hingeht. Geht mich ja nix an. Einfach freundlich sein, ein bisschen mit ihnen reden, um die Zeit zu vertreiben, und sie trocken und wohlbehalten auf die andere Seite bringen. Bei diesem Mann erinner ich mich allerdings, dass er ein richtig feiner Herr war. Wusste alles Mögliche.«
    Hester spürte wieder, wie sich ihr der Magen zuschnürte. Plötzlich war die Gefahr einer entsetzlichen Tragödie ganz real, einer Wunde, die nie heilen würde. »Wirklich?«, brachte sie hervor. »Wie alt, würden Sie sagen, war er denn?«
    Er legte den Kopf etwas schief und betrachtete erst sie, dann Scuff und dann wieder sie. »Wieso wollen Sie das wissen, Miss? Hat er Ihnen was angetan?«
    Hester wusste genau, was er dachte, und nutzte das aus, ohne sich auch nur eine Sekunde zu schämen. »Das weiß ich nicht, solange mir nicht klar ist, ob er es war«, antwortete sie, darauf bedacht, jedes belustigte Funkeln aus ihren Augen zu verbannen. Sie wäre am liebsten herausgeplatzt. Doch der Lachreiz verging ihr schnell, als sie an all die Frauen dachte, die in diesem Fall betroffen gewesen wären. Wie konnte sie nur das Leid anderer so kaltschnäuzig für ihre Zwecke ausnutzen?
    »Das glaub ich nich’, Mädchen«, sagte der Mann betrübt. »Dieser Bursche war’n bisschen zu alt für Sie.«
    »Zu alt?«, fragte sie überrascht. Sie

Weitere Kostenlose Bücher