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Einer trage des anderen Schuld

Einer trage des anderen Schuld

Titel: Einer trage des anderen Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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jedes Argument, das sich mühsam an die Oberfläche ihres Bewusstseins drängte, erwies sich als untauglich, sobald sie versuchte, es in Worte zu fassen. Es lief alles auf dasselbe hinaus: Sie wollte Ruperts Schuld einfach nicht akzeptieren. Sie mochte ihn und war ihm für die Unterstützung der Klinik dankbar. Sein Vater tat ihr unendlich leid. Und ihr war vollkommen klar, dass er nichts mit der Macht und dem Geld hinter Parfitts Treiben zu tun hatte. Was sie wollte, war, den Mann, der die Verantwortung für das alles trug, zu zerstören. Und in diesem Bestreben versuchte sie, die Indizien ihren Bedürfnissen anzupassen, doch das war nicht nur unehrlich, sondern letztlich auch zwecklos.
    »Nein, wahrscheinlich nicht.« Sie seufzte.
    Monk schloss liebevoll seine Hand um die ihre. Damit war alles gesagt.
    Seit Scuff verletzt, verängstigt und sehr geschwächt von Phillips’ Boot gerettet worden war, hatte er in Monks Haus sein eigenes Zimmer, in dem er jede Nacht schlief. Das war ein Arrangement zwischen ihnen, das beide Seiten in schweigendem Einvernehmen eingegangen waren, ohne dass es irgendwelcher Worte bedurft hätte. Am Anfang hatte noch jedes Mal die Frage in Scuffs Augen gestanden, wenn er zurückgekehrt war. Denn sobald er sich erholt hatte, legte er großen Wert darauf, das Haus tagsüber zu verlassen, einfach um zu beweisen, dass er seine Unabhängigkeit nicht verloren hatte und in der Lage war, sich selbst zu versorgen. Monk und Hester hatten beide darauf geachtet, das kommentarlos zu übergehen.
    Am dritten Tag nach Hesters Begegnung mit Crow kam Scuff schon lange vor dem Abendessen heim. Bereits beim Betreten der Küche schnupperte er anerkennend, als ihm aus dem Rohr der Duft von Kuchen in die Nase stieg und er sah, wie Hester die Form aus dem Ofen nahm, um sie auf den Herd zu stellen.
    »Crow hat was für Sie«, verkündete er fröhlich. »Ich soll Ihnen ausrichten, dass er morgen um Mittag gegenüber von der Chiswick Ait am Ufer auf Sie warten wird und Ihnen das geben kann, worum Sie ihn gebeten haben. Es is’ am billigsten, wenn wir den Zug nach Hammersmith nehmen und dann mit dem Hansom zur Hammersmith Bridge fahren und von dort am Fluss lang weitergehen. Ich weiß, wo das is’.« Er sog tief die Luft ein. »Is’ das Apple Pie?«
    Am folgenden Tag warteten Hester und Scuff schon eine Viertelstunde vor der vereinbarten Zeit am Treffpunkt und beobachteten die Boote auf dem Fluss. Dann registrierte Hester aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Sie drehte sich um und erkannte Crows hagere Gestalt, die mit flatternden Rockschößen und im Wind wehendem Haar den Kai hinunterlief.
    Sofort setzten sie sich in Bewegung.
    Als sie ihn erreichten, blickte er wieder zuerst Scuff an.
    »Geht es um etwas, das er nicht wissen sollte?«, fragte Hester hastig. »Ich kann ihn auf einen Botengang schicken. Er wollte nun einmal unbedingt mitkommen. Er … passt auf mich auf.« Aber musste sie das Crow wirklich erklären?
    »Diese Sache ist noch schlimmer, als ich dachte«, sagte Crow leise. »Mir ist nur nicht klar, welchen Nutzen Ihr Freund davon haben wird. Hätte ich gewusst, was dieser Dreckskerl kleinen Jungs angetan hat, hätte ich ihn persönlich umgebracht, aber nicht so schonend mit einem kurzen Schlag auf den Kopf.« Sein Gesicht war verzerrt, sein Mund ein dünner Strich. »Ich hätte an ihm eine Operation ausgeführt, die ihm garantiert nicht gefallen hätte, und dabei hätte ich dafür gesorgt, dass er jeden verdammten Schritt sieht und vor allem spürt. Er hätte mit eigenen Augen verfolgen dürfen, wie er langsam, aber sicher verblutet.« Erneut musterte er Scuff, und als der Junge seinen Blick erwiderte, verschwand aller Zorn aus Crows Augen, und plötzlich schenkte er dem Jungen sein unverkennbares breites Grinsen.
    »Ham Sie was für uns?«, fragte Scuff erwartungsfroh.
    »Aber natürlich«, antwortete Crow. »Oder hast du geglaubt, ich würde den ganzen Weg bis hierher am Ende der Welt mit leeren Händen kommen? Hier entlang.« Und ohne weitere Erklärung führte er die beiden ein Stück weiter die Straße hinunter, auf der einen Seite die Boote und Tavernen, auf der anderen der Steilabhang.
    Nach etwa hundert Metern überquerte er die Straße, wobei er lässig den wenigen vorbeifahrenden Pferdekarren auswich, und trat in eine Gasse, die zwischen Geschäften und Wohnhäusern vom Fluss wegführte. Vorbei an einer Wiese, dem Chiswick Field, lotste er sie dann zu einem winzigen Durchgang. Dahinter

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