Einer trage des anderen Schuld
enormes medizinisches Wissen, das er einsetzte, um denjenigen zu helfen, die am Rande des Gesetzes oder im eisernen Griff der Armut lebten. Als Bezahlung nahm er entgegen, was ihm angeboten wurde: ein Versprechen für später oder eine Gefälligkeit, mit der man sich bei Bedarf revanchierte.
Hester hatte keine Ahnung, was Crow daran gehindert hatte, seine Ausbildung offiziell abzuschließen und eine reguläre Praxis zu eröffnen. Sein Akzent glich keineswegs dem der Bewohner des Hafenviertels, aber woher er stammte, konnte sie nicht heraushören. Jedenfalls mochte er Scuff, und das war die Hauptsache. Über die meisten Leute wusste man viel weniger, als man sich einbildete. Eltern, Herkunft, Geburtsdatum oder Ausbildung verrieten bei Weitem nicht so viel über das Herz eines Menschen wie das, was er tat, wenn einiges auf dem Spiel stand.
»Leider haben wir schon eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wer es war«, antwortete sie auf seine provokanten Worte, die Augen stets nach unten gerichtet, um nicht über zerbrochene Pflastersteine zu stolpern. »Jetzt versuche ich, Gegenbeweise zu finden, die seine Schuld infrage stellen oder, falls das nicht gelingt, wenigstens plausibel machen, dass er den Strick nicht verdient.«
»Sie wollen, dass er davonkommt?«, rief Crow überrascht.
So unverblümt hatte Hester es nicht ausdrücken wollen. Schon setzte sie zu einem Widerspruch an, als sie Scuffs Blick auf sich spürte, und blitzschnell erkannte sie, dass Crow womöglich doch recht hatte und sie aus Mitleid für Rupert handelte. Es war allerdings schwer, ihm eine ehrliche Antwort auf seine Frage zu geben, solange Scuff zwischen ihnen ging und jedes Wort begierig aufsog. Aber vielleicht war die ganze Wahrheit doch das Beste.
»Ich will, dass der Handel mit Sexualität beendet und ausgemerzt wird«, erklärte sie. »Um das zu erreichen, muss ich den Mann hinter dem Ganzen erwischen, den mit dem Geld. Aber dabei möchte ich Rupert Cardew nach Möglichkeit nicht opfern.«
Crows Augen weiteten sich ungläubig. »Möchten Sie vielleicht bei der Gelegenheit auch die Kronjuwelen ergattern, einfach nur so, als krönenden Abschluss?« Er wich gerade noch einem Haufen Abfall aus, woraufhin eine Ratte erschrocken davonjagte.
»Nicht unbedingt«, erwiderte Hester, ohne die Miene zu verziehen. »Für dergleichen hätte ich nicht genügend Verwendung. Es wäre schrecklich unbequem, sich immer stockgerade zu halten, damit die Krone nicht herunterfällt. Ich glaube nicht, dass ich das könnte.«
Scuff starrte die beiden verwirrt an.
»Sie scherzt nur«, versicherte Crow dem Jungen und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Zumindest hoffe ich das.«
»Halb«, räumte Hester ein und fügte dann lächelnd hinzu: »Vielleicht könnte ich sie ja sogar tragen, aber wenn ich etwas verlöre, beispielsweise mein Taschentuch, müsste es jemand anders für mich aufheben.«
»Wenn Sie eine Krone trügen, würde sich dazu auch jeder verpflichtet fühlen.« Crow lächelte.
Scuff lachte, doch unmittelbar unter der Heiterkeit schwelte die Angst, erneut verlorenzugehen und von ihr getrennt zu werden, und das hörte Hester deutlich.
Die nächsten fünf Minuten gingen sie schweigend weiter, vorbei an den sich vor ihnen auftürmenden Stapeln aus Kisten, Fässern und Holz. Dann endlich erreichten sie die Stufen zur Fähre, die sie ans Nordufer bringen sollte. Es war Gezeitenwechsel, und das Wasser war aufgewühlt. Verbände von aneinandergebundenen Leichterbooten, beladen mit Kohle, Holz und Holzfässern, zogen flussaufwärts. Ein Schiff rauschte mit geblähten Segeln vorbei. Das Licht über dem Wasser war hell, und als der Wind gegen die Wellenkämme prallte, peitschte er eine fein sprühende Gischt vor sich her.
»Ich will all die Einzelheiten in Erfahrung bringen, die kein Mensch einem Polizisten verraten würde«, ließ Hester Crow wissen, nachdem die Fähre sie am anderen Ufer abgesetzt hatte. »Was unter den Leuten gemunkelt wird.«
Eigentlich hatte sie keine genaue Vorstellung davon, was sie herausfinden wollte. Die Fakten sagten unmissverständlich, dass Rupert schuldig war. Ließe sich jemals die Tötung eines Menschen – selbst eines Mannes wie Parfitt – vor dem Gesetz rechtfertigen? Ließen sich Geschworene dazu bewegen, um Milde zu bitten? Oder würden sie bei der Konfrontation mit den Abscheulichkeiten, die dieser Mann verkauft hatte, zu dem Schluss gelangen, dass jeder, der sich auf so etwas einließ, egal, wie zögerlich
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