Einer trage des anderen Schuld
oder arglos, in Wahrheit kaum besser war als Parfitt selbst? Seine Kunden waren vermutlich allesamt reich, sonst wären sie ohne Nutzen für ihn gewesen. Keiner von ihnen litt Hunger, fror oder war obdachlos. Sie langweilten sich einfach nur. War das wirklich eine Entschuldigung?
Oder verhielt es sich so, dass sie Rupert mochte und um Scuffs willen verzweifelt den Mann hinter dem Ganzen suchte, um zu verhindern, dass alles bald wieder von vorn losging, nur mit einem neuen Bordellbetreiber? Und nicht zuletzt musste Scuff mit eigenen Augen sehen, dass ihr Kampf erfolgreich war, um glauben zu können, dass man wirklich etwas erreichen konnte – und dass er mitgeholfen hatte.
»Crow«, begann sie zögernd, »halten Sie es für möglich, dass ein Konkurrent den Mord angezettelt haben könnte. Parfitt muss mit dem Boot Unmengen verdient haben. Wenn jemand anders seine Geschäfte und seine Kunden übernähme, würde er doch genauso viel Gewinn einstreichen, oder? Mir käme es darauf an zu erfahren, wie der Betrieb geführt wurde. Wer profitiert geschäftlich von seinem Tod? Ich meine, unabhängig von der Erpressung. Schauen wir uns einfach die Einkünfte an.«
Crow nickte bedächtig. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Geben Sie mir zwei, drei Tage.« Nachdenklich neigte er den Kopf zur Seite. »Ich nehme an, Sie wollen vor allem die Einzelheiten und nicht bloß meine Schlussfolgerungen.«
»Ja, bitte. Meine Schlussfolgerungen könnten anders ausfallen.«
Darauf erwiderte er nichts, doch kurz blitzte Belustigung in seinen Augen auf. »Das wird hässlich«, warnte er sie.
»Natürlich wird es das. Danke.«
Dem gab es im Moment nichts hinzuzufügen. Sie dankte Crow noch einmal und ging.
»Und jetzt?«, fragte Scuff, der zwischendurch immer wieder schneller laufen musste, um mithalten zu können. »Wir hören doch jetzt nich’ auf, bloß weil er hilft, oder?« Sein Ton ließ Zweifel anklingen und auch Enttäuschung.
»Nein«, antwortete Hester entschieden. »Wir werden feststellen, ob in der Nacht, in der Parfitt ermordet wurde, vielleicht noch jemand zugegen war, der ein Interesse an den Profiten des Bootes hatte.«
»Wie soll das gehen?« Scuff war sichtlich verwirrt.
Bisher hatte Hester ihm nichts von Sullivans Aussagen über Ballinger erzählt. Sie nahm an, dass Monk sich ebenso verhalten hatte. Wenn die Beschuldigungen des jetzt toten Kinderschänders begründet waren, wäre Unwissenheit wohl der sicherste Schutz für den Jungen.
»Nun, falls es einer von den Männern ist, die ich im Verdacht habe, wird er zwangsläufig immer wieder mal am Fluss gewesen sein. Wenn ich jemanden auftreibe, der ihn gesehen hat, dann wäre das ein guter Anfang.«
»So was wie ’nen Kutscher?«
»Ich habe vor, mit dem Fährmann anzufangen. Kutscher bekommen nicht allzu viel von den Gesichtern ihrer Fahrgäste zu sehen, vor allem nicht bei Dunkelheit.«
»Klar!«, rief Scuff eifrig. »Man sitzt in ’nem Boot, und da muss der Fährmann einen ja anschauen! Wenn der Kerl nich’ wollte, dass sich die Leute an ihn erinnern, is’ er bestimmt selber gerudert. Oder wenn er das nich’ konnte, is’ er wohl in ’nem Boot rübergefahren, wo so viele Leute drauf waren, dass er in der Menge nich’ aufgefallen is’.«
»Ganz richtig«, stimmte Hester zu. »Lass uns mit den Fährmännern in Chiswick anfangen. Für Leute, die in London leben, wäre der kürzeste Weg wohl mit dem Hansom über die Putney Bridge zur Anlegestelle Barnes Common und von dort mit der Fähre zu Parfitts Boot vor Corney Reach.«
»Genau«, krähte der Junge, obwohl er überhaupt nichts verstand. Er kannte den Pool of London wie seine Hosentasche, aber darüber hinaus so gut wie nichts. Worum es ihm ging, war schlicht, nicht ausgeschlossen zu sein.
Mit dem Pferdeomnibus dauerte es bis weit in den Nachmittag, um vom Hafenviertel am östlichen Ende mit seinen großen Werften und Docks quer durch die Stadt zu ihrem vornehmeren grünen Rand im Westen und dann noch weiter hinaus aufs üppige Land am Südufer zu gelangen. Für den Rest der Reise durch den Barn Elms Park zu der kleinen Gemeinde Barnes selbst und dort zur High Street direkt am Wasser gab es keinen Omnibus. So legten sie entsprechend müde, durstig und mit wund gelaufenen Füßen im White Hart Inn Rast ein, doch Scuff beklagte sich kein einziges Mal.
Hester fragte sich insgeheim, ob sein Schweigen damit zu tun hatte, dass dieser Ort so anders war als das, was er kannte: grün,
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