Einer trage des anderen Schuld
Gefallen fand als Hester am Anfang ihrer Recherchen. Aber je mehr er erfuhr, desto leichter wurde es, in Rupert einen verwöhnten jungen Mann zu sehen, dessen fragwürdiger Lebenswandel und zügelloser Charakter sich am Ende doch noch gerächt hatten. In Mickey Parfitt war er dem Problem begegnet, das sein Vater nicht mehr für ihn lösen konnte. Kein Geldbetrag der Welt hätte ausgereicht, um eine Form der Erpressung zu beenden, die allem Anschein nach perfekt funktionierte.
Die einzige Unstimmigkeit in der Beweiskette bestand darin, dass Parfitt die Erpressung professionell betrieb. Von seinen siebenunddreißig Lebensjahren hatte er die letzten zehn davon bestritten, dass er die Schwächen anderer Männer ausnutzte. Unter seinen Opfern hatte mindestens eines Selbstmord begangen, wahrscheinlich sogar mehrere, aber bis zu seinem Tod war er selbst von keinem angegriffen worden. Anscheinend hatte er immer genau gewusst, wie weit er mit seinen Drohungen gehen konnte. Ein totes Opfer war schlecht für die Geschäfte, das hatte er nie vergessen – oder fast nie.
Stellte das eine Schwäche in der Beweiskette dar oder lediglich eine Tatsache, die noch erklärt werden musste? In dem Prozess gegen Jericho Phillips hatte Rathbone Monk nicht einfach nur geschlagen, er hatte ihn und später – bei ihrer Aussage – auch Hester gedemütigt. Das alles hatte er in dem Wissen um ihre verwundbaren Stellen getan, einem Wissen, das nur ein enger Freund erlangen kann.
Immer noch wallte bei der bloßen Erinnerung der Zorn in Monk auf. Aber vielleicht hatte Hester weniger darunter gelitten, als ihn die Niederlage quälte. Sie hatten nie darüber gesprochen, als wäre es noch zu schmerzhaft, die Wunde zu berühren.
Diesmal würde er entweder dafür sorgen, dass Rupert schuldig gesprochen wurde, indem er Beweise lieferte, die über jeden Zweifel erhaben waren, ob vernünftig oder nicht; oder aber er würde den wahren Schuldigen finden und das beweisen.
Wen er natürlich noch viel dringlicher fassen wollte, war der Mann, der Mickey Parfitt in dem schmutzigen Gewerbe etabliert und ihm die Kunden besorgt hatte. Genau das wollte Monk herausfinden und beweisen, egal, wer derjenige sein mochte, ja, selbst wenn Sullivans Behauptungen zutrafen und es tatsächlich Arthur Ballinger war. Sogar jemanden wie Lord Cardew würde er aufspüren – jeden, und zwar ohne Ausnahme.
War seine Härte eine Folge der Skrupellosigkeit dieser Machenschaften oder des Umstands, dass kleine Jungen wie Scuff brutal missbraucht wurden?
Die Fähre erreichte das andere Ufer. Monk entrichtete den Fahrpreis und erklomm die glitschigen Stufen zum Kai.
Es widerstrebte ihm, Rupert Cardew zu verfolgen, aber es gab keine Möglichkeit, sich dieser Aufgabe zu entziehen. Besonders schmerzte ihn dabei, dass die ganze Angelegenheit völlig unsinnig war. Rupert hätte doch nie sein auffälliges Seidenhalstuch abgenommen, es mit Bedacht verknotet und dann einen bewusstlosen Mann damit erdrosselt. Das ganze Vorgehen schien so völlig unnötig. Darüber hinaus war es, wie er jetzt begriff, einfach keine Tat, die einem Genugtuung verschaffen konnte. Es fehlte der unmittelbare körperliche Kontakt, die Entladung aufgestauter Gewalt. Sie hatte etwas Kaltblütiges. Das war allerdings der einzige Aspekt, der ihm nicht einleuchtete. Den leidenschaftlichen Drang, Parfitt zu zerstören, konnte er nur zu gut verstehen.
Als er die oberste Stufe erreichte, durchbrach die Sonne den Nebel und brachte den Tau auf dem Stein einen Moment lang zum Glitzern. Aber dafür hatte Monk jetzt keinen Blick. Eilig ging er zur Straße, während sich seine Gedanken weiter um den Hauptverdächtigen drehten.
War Rupert wirklich so naiv gewesen, sich einzubilden, mit dieser Tat könne er das widerwärtige Geschäft mit Menschen ein für alle Mal beenden? War er derart verwöhnt und fern aller Realität, dass er glaubte, ein Mann wie Parfitt wäre der Drahtzieher der Machenschaften, derjenige, der die Kunden anwarb und dann haargenau einschätzte, wie weit er jeden Einzelnen schröpfen konnte, bevor dieser zusammenbrach und sich das Leben nahm? Tote konnte man nicht mehr erpressen.
Nein, es war der Mann hinter Parfitt, den Monk haben wollte, und dieser Gedanke beschäftigte ihn auch noch eine Stunde später, als er Oliver Rathbone aufsuchte. Nach kurzem Warten wurde er in das hübsche, elegante Büro geführt.
»Guten Morgen, Monk«, begrüßte ihn Rathbone mit gelindem Erstaunen. »Ein neuer Fall?«
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