Eines Abends in Paris
Ignoranz machte mich wütend. »Was reden Sie da für einen Unsinn, Monsieur! So was bildet man sich nich ein. Ich habes genau gespürt, das war ein Erdstoß. Sie!« Ich zeigte mit dem Finger auf ihn. »Versuchen Sie nich, mich für dumm zu verkaufen.« Aufgebracht erhob ich mich ein paar Zentimeter von meinem Stuhl und ließ mich dann wieder fallen.
Eine kleine Melodie unterbrach meine Rede. Die immergleichen Töne drangen an mein Ohr. »Und stelln Sie diese Gedudel ab, das schtört mich beim Denken.«
Der Kellner war sehr geduldig. »Ich glaube, Ihr Telefon hat geklingelt, Monsieur«, sagte er und entfernte sich diskret von meinem Tisch.
Ich fischte das blöde Ding aus einem Regenmantel, der neben mir über dem Stuhl hing. Hatte ich ihn da hingelegt? Ich konnte mich nicht erinnern.
»Ja?«, stieß ich mühsam hervor. Das Sprechen strengte an. »Wer wagt es, mich zu schtören?«
»Alain?!«, sagte Robert. »Was ist los? Geht’s dir gut? Du klingst so merkwürdig. Und – habt ihr Mélanie gefunden?«
»Mein Freund«, sagte ich. »Mir geht es sehr gut, aber du stells ziemlich viele Fragen auf einmal. Wir ham Méla gefunden. Aber Méla is nich Mélanie. Mélanie is gestorben, wussest du das nicht? Der arme Alain. Dem geht’s jetz ech beschissen. Wir sissen hier und trinken ein Glas zusammen. Willsu nich auch kommen?«
»Großer Gott, Alain!« Die Stimme meines Freundes klang besorgt, und ich verstand gar nicht, warum. »Du bist ja völlig betrunken.«
»Ich bin nich betrunken, ich trinke nur«, erklärte ich mit Nachdruck und merkte, wie das Restaurant sich um mich zu drehen begann.
»Wo bist du?«
»Inlaffalette«, lallte ich.
Und dann kippte ich vornüber und schlief ganz friedlich auf der Tischplatte ein.
Nach einer Omelette und drei Tassen mit doppeltem Espresso hatte das La Palette aufgehört, sich um mich zu drehen. Ein Gang zur Toilette tat sein Übriges. Robert hielt mich und zog die Spülung.
»Ist doch gut, wenn es rauskommt«, sagte er, als ich mir den Mund mit Wasser ausspülte. Ich stützte mich auf dem Waschbecken auf und blickte in mein bleiches Gesicht, in das wirr die dunklen Haare fielen. Heute Morgen hatte ich eindeutig besser ausgesehen.
»Ich muss ins Bett«, sagte ich.
Robert nickte. »Der erste vernünftige Satz, den ich heute Abend von dir höre.« Er klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. »Schlaf erst mal eine Runde, dann geht’s dir wieder besser. Alles halb so schlimm.«
Ich nickte ohne rechte Überzeugung. Inzwischen war ich wieder so nüchtern, dass ich Roberts Optimismus nicht wirklich teilen konnte. Ich fühlte mich nicht gerade großartig. Trotzdem taten mir seine Worte gut, so banal sie auch waren.
»Na ja«, sagte ich und grinste tapfer. »Muss ja, oder?«
»Du wirst sehen, in ein paar Wochen wirst du über die ganze Sache lachen. Und dann stelle ich dir Melissas Freundin vor. Die ist genau dein Typ. Dunkelblond und superhübsch. Sie geht auch sehr gerne ins Kino. Sie hat Melissa und mich neulich mitgeschleift in so einen Film über ein Altersheim in Indien. Das Best Exotic Marigold Hotel «, schloss er stolz. »Ein guter Film. Hat mir sehr gefallen.«
Es war offensichtlich, dass er alles tat, um mir eine Freude zu machen.
»Schön«, sagte ich. »Den Film kenne ich.«
»Und was der schlagende Vorteil ist …« Robert zog sein Augenlid mit dem Finger herunter. »Dieses Mädchen ist eine Frau aus Fleisch und Blut – nicht irgend so ein Hirngespinst im roten Mantel.«
Robert war an diesem Abend wirklich sehr nett zu mir. Er bezahlte meine Rechnung und bestand darauf, mich bis an die Wohnungstür zu begleiten.
Als wir aus dem La Palette traten, bemerkte ich einen großen vierschrötigen Mann, der einsam an einer Laterne lehnte und kurz zum Eingang hinüberschaute. Dann zündete er sich in bester Marlboro-Mann-Manier eine Zigarette an und warf das Streichholz auf den Boden. Auch andere waren einsam auf dieser Welt.
Robert ließ es sich nicht nehmen, mich an diesem desaströsen Abend mit einem Filmzitat zu verabschieden, das er sich wohl für Augenblicke wie diesen gemerkt hatte.
»Nimm’s nichts so schwer, Alain, und ruf mich an, wenn irgendetwas ist, okay? Und wenn du trinken musst, dann lass uns das zusammen machen. Allein trinken ist noch nie gut gewesen.«
Ich nickte. Da hatte mein Freund ausnahmsweise mal Recht. Mir war immer noch ein wenig schummrig, aber immerhin stand ich wieder. Ich lehnte im Türrahmen und sah Robert nach, der zur Treppe ging.
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