Einfach ein gutes Leben
Bedürfnisse. Darauf setzen alle weiteren Stufen auf bis zur Spitze der Pyramide: das Sicherheitsbedürfnis (Schutz, Wärme, Unversehrtheit und so weiter), das Bedürfnis nach sozialer Bindung, das Bedürfnis nach Wertschätzung, das Bedürfnis nach Selbstbestimmung und schließlich an der Spitze die Suche nach Transzendenz. 27
Maslow konnte glaubhaft machen, dass die Bedürfnisse in seiner Liste grundsätzlich allen Menschen zu eigen sind, und zeigte, dass sie in der Entwicklung der Persönlichkeit eine wichtige Rolle spielen. Unumstritten ist er damit allerdings nicht geblieben. Philosophen, Ethnologen, Ökonomen und Soziologen führen immerhin seit der Antike Debatten darüber, welche Bedürfnisse es denn genau sind, die wir unbedingt befriedigen müssen , wollen wir nicht dauerhaften Frust riskieren, psychische oder physische Krankheit oder gar den – allmählichen oder instantanen – Tod. Dass es Bedürfnisse gibt, deren Gültigkeit man auf die ganze Menschheit übertragen kann, steht nicht in Zweifel. Die Frage ist eher, auf welcher Stufe der Pyramide man den Schnitt machen muss, unter dem noch universelle Bedürfnisse herrschen und über dem die individuellen Unterschiede den Ton angeben.
Martha Nussbaum, US-amerikanische Philosophin, hat den menschlichen Grundbedürfnissen in ihren Arbeiten ebenfalls viel Aufmerksamkeit gewidmet. Auch sie findet »zentrale Eigenschaften unserer gemeinsamen Humanität« und begründet die Gewissheit ihrer Erkenntnis mit zwei Beobachtungen:
»Erstens, dass wir uns über viele Unterschiede der Zeit und des Ortes hinweg gegenseitig als Menschen anerkennen. … Zweitens haben wir einen weithin akzeptierten Konsens hinsichtlich jener Eigenschaften, deren Fehlen das Ende einer menschlichen Lebensform bedeutet.« 28
Nussbaum und ihr indischer Kollege Amartya Sen stellen die Frage nach den zentralen Eigenschaften des Menschseins allerdings etwas anders als Maslow. Sie fragen nicht: »Was brauche ich?«, sondern: »Wozu muss ich in der Lage sein?« Sie richten ihr Augenmerk auf die Fähigkeiten , über die ein Mensch verfügen muss, damit sein Leben gelingen kann. Lebensqualität richtet sich in ihren Augen danach, was Menschen zu erreichen in der Lage sind . Sie sprechen daher nicht von »Grundbedürfnissen«, sondern von »Verwirklichungschancen« oder »Grundbefähigungen«. Es geht ihnen um die Möglichkeiten eines jeden, seine Lebensperspektiven zu verwirklichen. Sen hat den Ansatz deshalb »Capability Approach« (Verwirklichungs- oder Befähigungsansatz) genannt.
Der Befähigungsansatz schaut mit zwei verschiedenen Blicken auf die Eigenschaften, die er beschreibt. Zum einen sieht er sie als Fähigkeiten und Fertigkeiten des Individuums an, also als ein Können: Ich kann etwas Bestimmtes tun, weil ich (biologisch, psychisch …) dafür ausgestattet bin. Zum anderen spricht er von den Lebensumständen, in denen das Individuum lebt – dem Ort, der historischen Zeit, der Gesellschaft und den politischen Rahmenbedingungen, das heißt von den Umständen, die das Individuum in der Ausübung seiner Fähigkeiten entweder fördern oder behindern: Ich kann etwas Bestimmtes tun, weil mein Lebenskontext es zulässt. Durch die Rahmenbedingungen sind also bestimmte »Verwirklichungschancen« gegeben. Ob ich die Verwirklichungschancen in konkrete Handlungen oder Zustände (die Sen und Nussbaum »Fähigkeiten« nennen) umsetze, hängt von mir selbst ab.
Ein Beispiel soll erläutern, wie der Capability Approach im Konkreten aussieht: Ein Auto würde die Möglichkeiten einer Frau, die vorher keinen Führerschein hatte, um einiges erweitern. Sie wäre mit seiner Hilfe in der Lage, erstens schneller von A nach B zu kommen; zweitens könnte sie nun auch nach C gelangen, das bislang für einen Fußmarsch außerhalb der Reichweite lag. Sie würde ihre Handlungsmöglichkeiten also vergrößern. Das kann sie nur erreichen, indem sie eine neue Fähigkeit, nämlich Auto fahren, erlernt, mit anderen Worten ein Können erwirbt. Dazu müssen ihr aber zunächst die Verwirklichungschancen zur Verfügung stehen: Sie muss ein Auto erwerben können, es müssen Straßen vorhanden sein, auf denen Autos fahren können, sie muss in einer Familie leben, die ihr das Autofahren nicht kategorisch untersagt, und so weiter.
Was sollten Menschen im Allgemeinen laut dem Befähigungsansatz können? Während Sen in diesem Zusammenhang noch gar nicht von »sollen« spricht, wird Nussbaum dezidiert normativ. Was er
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