Einfach ein gutes Leben
Verwirklichungschancen nennt, sind bei ihr »Grundbefähigungen«, die sie in einer elfteiligen Liste zusammenstellt. Sie stellt sich die Frage: Welche fundamentalen Fähigkeiten würde ein Mensch – egal in welchem Teil der Erde er lebt – haben, gegeben, es gäbe keine Einschränkungen für ein gelingendes und zufriedenstellendes Leben? Ihr Ergebnis sieht folgendermaßen aus:
1. Die Fähigkeit, ein volles Menschenleben bis zum Ende zu führen; nicht vorzeitig zu sterben oder zu sterben, bevor das Leben so reduziert ist, dass es nicht mehr lebenswert ist.
2. Die Fähigkeit, sich guter Gesundheit zu erfreuen; sich angemessen zu ernähren; eine angemessene Unterkunft zu haben; Möglichkeiten zu sexueller Befriedigung zu haben; sich von einem Ort zum anderen zu bewegen.
3. Die Fähigkeit, unnötigen Schmerz zu vermeiden und freudvolle Erlebnisse zu haben.
4. Die Fähigkeit, die fünf Sinne zu benutzen, sich etwas vorzustellen, zu denken und zu urteilen.
5. Die Fähigkeit, Bindungen zu Dingen und Personen außerhalb unserer selbst zu haben; diejenigen zu lieben, die uns lieben und für uns sorgen, und über ihre Abwesenheit traurig zu sein; allgemein gesagt: zu lieben, zu trauern, Sehnsucht und Dankbarkeit zu empfinden.
6. Die Fähigkeit, sich eine Vorstellung vom Guten zu machen und kritisch über die eigene Lebensplanung nachzudenken.
7. Die Fähigkeit, für andere und bezogen auf andere zu leben, Verbundenheit mit anderen zu erkennen und zu zeigen, verschiedene Formen von familiären und sozialen Beziehungen einzugehen.
8. Die Fähigkeit, in Verbundenheit mit Tieren, Pflanzen und der ganzen Natur zu leben und pfleglich mit ihnen umzugehen.
9. Die Fähigkeit, zu lachen, zu spielen und Freude an erholsamen Tätigkeiten zu haben.
10. Die Fähigkeit, sein eigenes Leben und nicht das von jemand anderem zu leben.
10a. Die Fähigkeit, sein eigenes Leben in seiner eigenen Umgebung und seinem eigenen Kontext zu leben. 29
Die maslowsche Pyramide findet sich in der Liste komplett wieder. Auch hier spiegeln sich Bedürfnisse nach Existenzsicherung, Schutz und Sicherheit, Bindung zu anderen Menschen, nach Liebe und Anerkennung sowie nach einem autonomen Leben wider. Die geeignetsten Kandidaten für den Kanon der allgemeinen Eigenschaften menschlichen Lebens liegen also offenbar auf dem Tisch.
Nussbaum geht nun aber noch weiter und stellt die Frage, in welchem Rahmen man denn davon sprechen kann, dass einLeben überhaupt ein menschliches Leben ist. Zumindest muss es eine untere Grenze geben, ab der die Kennung »Mensch sein« sinnlos wird. Für Nussbaum ist die Grenze der menschenwürdigen Existenz erreicht, wenn die Realisierungschancen für die elf Grundbefähigungen nicht mehr über ein Minimum hinausreichen, ein Mensch in seinen Handlungsmöglichkeiten also über die Maßen eingeschränkt ist. Darüber hinaus zieht Nussbaum aber noch eine weitere Schwelle ein, nämlich eine zweite Grenze der Ausprägung der Grundbefähigungen, über der man nicht mehr nur von minimaler Menschenwürde, sondern von einem guten Leben sprechen kann. An welchen konkreten Grenzen diese beiden Schwellen jeweils liegen, sei kulturell verschieden. Es kann durchaus vorkommen, dass die Schwelle einer »hierarchisch höheren« Befähigung die einer basaleren überdeckt. Veganer beispielsweise ziehen ihre Achtung gegenüber Tieren dem Bedürfnis nach dem Nahrungstyp Fleisch und anderen tierischen Produkten vor (wenn auch nicht dem Bedürfnis nach Nahrung schlechthin).
Nussbaum unterscheidet also zwischen einem gar nicht menschenwürdigen Leben, minimal gelingendem menschlichem Leben und dem »guten Leben«, das die vergleichsweise meisten Handlungs- und Verwirklichungschancen beinhaltet. Kurz gesagt: Je weiter die Befähigungen eines Menschen reichen, je weiter mit anderen Worten seine Handlungsmöglichkeiten innerhalb des Spektrums der Grundbefähigungen sind, desto näher ist er dem guten Leben. Ich habe ein besseres Leben, wenn ich nicht lediglich in der Lage bin, mir Essen zu beschaffen, sondern darüber hinaus mit dem Beschaffen gleichzeitig mein Bedürfnis nach einer intakten Beziehung zu anderen befriedige, meiner Verbundenheit mit Pflanzen und Tieren nachgehe oder eine selbstbestimmte Tätigkeit ausübe.
Wichtig hier: Für ein wirklich gutes Leben (das heißt eines, das über das minimale Gelingen hinausgeht) müssen meine Grundbefähigungen erstens ein gewisses Niveau erreichen und zweitens müssen sie das in ihrer ganzen
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