Einfach ein gutes Leben
Breite tun. Essen in märchenhaftem Überfluss, das die Tischplatte beziehungsweise den Einlegeboden im Kühlschrank durchbiegt,wird mein Nahrungsbedürfnis sicher mehr als befriedigen. Wenn die anderen Bedürfnisse dabei unerfüllt bleiben, habe ich mich vom guten Leben dennoch sogar entfernt. Das Gleiche gilt, wenn ich zwar prinzipiell in allen elf Punkten fähig bin, aber nur eingeschränkt oder immer nur zeitweise.
Für Sen und Nussbaum sollen Menschen ein möglichst hohes Niveau ihrer Grundbefähigungen (beziehungsweise Verwirklichungschancen) erreichen. Das ist die Existenz, die wir suchen sollten: Mehr von dem erreichen zu können, was zu einem guten Leben führt. Der Befähigungsansatz hat einen normativen Anspruch. Was er nicht vorschreiben will, ist, in welcher konkreten Weise die Grundbefähigungen realisiert werden. Das kann von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich sein. Grundbefähigungen sind Chancen, die den individuellen Freiheiten und kulturellen Prägungen Raum lassen. Sie bringen die Potenziale auf den Punkt, die Menschen für die Ausgestaltung ihres jeweils eigenen guten Lebens zur Verfügung haben sollten. Das ist ein entscheidender Unterschied zum Begriff der »Grundbedürfnisse«, die in der Vorstellung oft eher zu einer einmaligen, abschließenden Befriedigung führen. Bedürfnisbefriedigung, könnte man sagen, macht satt, Grundbefähigungen machen frei.
Hunger nach dem guten Leben
Das alte Thema der Philosophie, das »gute Leben«, führt uns an dieser Stelle wieder zurück zu den neuen Selbstversorgern. Ihnen ist es um mehr zu tun, als nur ihre basalen Bedürfnisse zu stillen. Die menschlichen Grundbefähigungen wiederum führen nur dann zu einem guten Leben, wenn sie in ihrer Breite realisiert werden, nicht bloß in einer Auswahl (dafür aber umso intensiver). Ist das Ziel der Selbstversorger also ein gutes Leben in dem Sinne, in dem die Philosophie vom »guten Leben« spricht?
»Bei denen, die ich getroffen habe, ist das so gewesen«, sagt Kenneth Anders. Peter Huth, sein Mitstreiter im Oderbruch wird auf die Frage nach dem guten Leben konkret: »Naturverbundenheit. Freiheit, sich sein Leben und seinen Tag einteilen zu können.« Für ihn sind das Gründe, sich jeden Tag neu für die Selbstversorgung und den eigenen Hof zu entscheiden. Er macht weiter, weil er im Oderbruch gefunden hat, wonach er gesucht hat. Ähnlich wie Huth fühlt sich auch Michael Hartl in der Buckligen Welt dem guten Leben schon ein ganzes Stück näher.
»Das erreichst du, wenn du tief in dir zufrieden bist. Ich glaube, übermäßiger Konsum kann dazu nichts beitragen. Es geht darum, wieder die Wunder im Kleinen zu erkennen und sich daran zu erfreuen. Es geht um innere Ruhe. Also weg von der Hektik des heute als normal angesehenen Alltags. Weg vom sich immer schneller drehenden Rad der Neuigkeiten und Modetrends. Und es geht um Dankbarkeit. Für alles, was ist, was einem geschenkt wird, und für die Situation, in der man lebt. Ich glaube zwar nicht, dass dazu ein Umzug auf einen kleinen Hof nötig ist, aber es erleichtert diese Punkte ungemein.«
Die Selbstversorger suchen tatsächlich in ihrem Streben nach Grundversorgung, einer gesunden Lebensgrundlage, Naturerfahrung, Verbundenheit, Gemeinschaft und Selbstbestimmung nach der Erfüllung menschlicher Grundbefähigungen. Sie wollen sich einem guten Leben nähern. Das ist ihr übergreifendes Motiv.
Für Michael Hartl fängt das gute Leben dort an, wo er dem gewohnten Alltag in der Stadt mit seiner Konsumorientierung am entferntesten ist. Es ist sicher kein Zufall, dass er nicht nur seine Grundbedürfnisse dort am ehesten befriedigen kann, sondern ihre Bedeutung überhaupt erst kennenlernt. Michael und Lisa sind sich dessen sehr bewusst, dass das Kennenlernen damit beginnt, die vertraute Konsumentenrolle mit der aktiven Rolle des Experimentators an der eigenen Existenz zu tauschen. Es ist ein risikoreicher Tausch, nicht bloß, weil die Existenzsicherung scheitern könnte, sondern weil die beiden mit ihrer neuen Rolle vielleicht nicht klarkommen könnten. Bisher allerdings klappt alles gut. Mit jedem Tag auf dem eigenen Hof können sie sich weiter in Fähigkeiten üben, deren Ausübung ihnen die Zufriedenheit schenkt, von der Michael spricht. Zum Beispiel sich in Verbundenheit mit den Pflanzen zu setzen, mit denen sie täglich umgehen. Lisa ist jedes Mal aufs Neue fasziniert von der Natur: »Für mich gibt es nichts Erfüllenderes, als einen Samen mit
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