Einfach losfahren
Liebe, den Freund der Menschen, den Arzt, der den ursprünglichen Zustand wiederherstellt. Indem er versucht, aus zwei eins zu machen, versucht Eros die menschliche Natur zu heilen. Da wir eine Hälfte sind, werden wir das Glück nur finden, wenn wir der anderen begegnen und eins werden. Und Plato ist ja wohl kein Dummkopf, oder?«
»Natürlich nicht. Aber die andere Hälfte, die man finden muss, ist nicht die Frau.«
»Nicht die Frau? Willst du etwa behaupten, ich fände mein Glück mit einem Mann?«
»O ja, und groß und muskulös muss er sein! Stimmt’s? Nein, die andere Hälfte ist nicht die Frau: Das bist noch mal du. Es ist deine andere Hälfte, der unbekannte Teil, du musst ihm Leben einhauchen, damit du ihn überhaupt erkennst. Das ist die wahre Vereinigung, nur sie kann uns von jenem Gefühl der Einsamkeit befreien, das wir selbst dann empfinden, wenn wir mit einem anderen zusammen sind. Dann, und nur dann, gibt es nichts Schöneres, als dieses Leben mit einem anderen Menschen zu teilen. Allerdings braucht man dazu zunächst mal ein eigenes Leben. Ein lebendiges Leben. Das in seiner Ganzheit begeistert. Es ist, wie wenn du ein Bild betrachtest: Ein Detail gefällt dir vielleicht besonders, aber das Aufregende ist das Bild als Ganzes.
Ich kenne dich, Michele, du bist mein Bruder. Du musst mir glauben, wenn ich dir sage, dass du viel mehr bist. Das weißt du auch. Du bist keine Rolle, du bist ein Wunder, verdammt! Hast du etwa nie das Gefühl gehabt, du wärst etwas Besseres, könntest mehr aus deinem Leben machen? Hast du nie das Gefühl gehabt, mit angezogener Handbremse zu leben? Das ist eine Gewissheit, die jeder von uns empfindet. Dein Vater, zum Beispiel. Hast du nie gedacht, dass er im Grunde viel mehr ist als das? Als das Leben, das er führt? Denk mal darüber nach.
Und Francesca?
Michelangelo hat behauptet, dass er in jedem Marmorblock bereits das Kunstwerk erblicke; seine Arbeit bestehe einfach nur darin, alles Überflüssige wegzunehmen, das, was zu viel ist und die Statue gefangen hält. Wir sind genauso. Alles ist schon da, auch wenn man es nicht sieht. Das Kunstwerk ist schon in uns. Wir müssen nichts weiter tun, als uns die Hilfsmittel besorgen, um es zu befreien. Um uns zu befreien.
Die Frage ist nicht, ob du mit Francesca zusammenbleiben sollst oder nicht. Mit dieser Frage lenkst du dich einfach von der anderen ab, der eigentlichen. Wer diese andere Hälfte seiner selbst nicht befreit, wer sie nicht findet, der lebt wie ein Gefangener, und die Liebesgeschichten sind nichts anderes als die Freistunde eines Häftlings. Für einen Häftling ist die Freistunde das Schönste, was ihm im Leben passieren kann.
In meiner Gefängniszelle kannte ich mich aus. Ich war Herr über meine Zeit und meinen Raum. Und die Menschen um mich herum lebten wie ich im Knast.
Als ich das begriffen hatte, beschloss ich, dass ich nicht länger eine Freistunde wollte und auch nicht länger herumlaufen und sie anderen anbieten wollte. Ich wollte ein freies Leben. Frei atmen. Das Leben eines freien Menschen.
Es ist ein Unterschied, ob du willst, dass es dir wirklich gutgeht, oder ob du willst, dass es dir nur bessergeht. Wenn es dir nur bessergehen soll, dann reicht es, wenn du dich ab und zu verliebst, dir etwas kaufst, eine Gehaltserhöhung bekommst. Dich in deiner Zelle einrichtest. Du kannst so weiterleben, aber glaub mir: Du bist dafür geschaffen, die Sonne zu genießen. Wenn du, statt das Fenster zu öffnen und sie hereinzulassen, ab und zu eine Nachttischlampe anknipst, vergisst du mit der Zeit, dass sie existiert, und am Ende wird in deinem Zimmer die Nachttischlampe zur Sonne.
Mach, was du willst, aber eins ist für mich klar, und deshalb sage ich dir’s noch mal: Du bist viel mehr als das. Glaub mir. Wenn du dich nur einen Augenblick lang mit meinen Augen sehen könntest, du würdest nicht mehr daran zweifeln.«
»Und was soll ich tun?«
»Die gleiche Frage hast du mir vor fünf Jahren gestellt. Aber ich mag dich nicht belehren, ich sage dir nur, was ich denke, vielleicht ist ja auch alles nur Unsinn. Ein Beispiel: Du spürst, dass du dieses verdammte Buch schreiben willst, das sagst du, seit wir zusammen in der Schule waren. Warum hast du es noch nicht geschrieben? Schreib einfach die Wörter hin, die in dir sind, und möglicherweise merkst du dabei, dass du in Wirklichkeit gar kein Buch, sondern ein Lied schreiben willst… oder Möbel oder Espressotassen designen, einen Zeitungskiosk
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