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Einfach losfahren

Einfach losfahren

Titel: Einfach losfahren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Volo
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drücken. Es tat höllisch weh. Sie forderte mich auf, tief einzuatmen, und wenn ich die Luft ausstieß, unterstützte sie meinen Atem, indem sie kräftig in mich hineinbohrte und drückte. Das ging ein paar Mal so, bis mir wohl der tiefen Atemzüge wegen schwindlig wurde und ich das Gefühl hatte, als würde sie mit ihrer Hand in mich eindringen und fast durch mich hindurchfahren. Die andere Hand hatte sie auf gleicher Höhe in meinen Rücken gelegt, um den Stoß abzufangen, und auf einmal war es, als würden sich ihre Hände in mir berühren. Genau so fühlte es sich an. Sie zog die Hand zurück und umarmte mich. Ich hatte immer eine Abneigung gegen allzu große körperliche Nähe zu Unbekannten, aber diese Umarmung hatte etwas Vertrautes. So hätte mich auch meine Großmutter in die Arme schließen können. Die Einzige, die das bei mir als Kind durfte, abgesehen von meiner Mutter. Ganz langsam hob ich die herabhängenden Arme und erwiderte die Umarmung, ganz natürlich und ohne es bewusst zu tun. Dort, wo Tina mich massiert hatte, spürte ich plötzlich eine Hitze, die sich im ganzen Körper ausbreitete. Meine Beine begannen zu zittern, ich wurde praktisch von ihr gehalten. Ich begann zu schwitzen. Aus Hals, Rücken, Stirn trat mir der Schweiß. Ich brach in Tränen aus. Ich weinte und konnte es nicht glauben. Endlich! Ich hustete, schluchzte, weinte, und die Tränen schossen nur so hervor wie bei einem sommerlichen Platzregen. Bestimmt zehn Minuten habe ich geweint. Eine Ewigkeit. Ich stand da in diesem Zimmer wie ein Kind und klammerte mich an diese Frau, als wäre sie das Leben selbst. Noch heute kommen mir jedes Mal, wenn ich daran denke, die Tränen. Nach und nach wurde alles ruhig. Schweigend setzte ich mich. Ich konnte nicht sprechen. Ich war verwirrt. Sophie und Tina lächelten. Sophies Augen glitzerten, ich glaube, sie hatte auch geweint. Ich sah sie an und lächelte. Jetzt ging es mir gut. So gut wie im ganzen Leben noch nicht.
    Tina nahm den Topf mit kochendem Wasser und leerte ein Tütchen hinein.
    »Was gibt sie mir jetzt?«, fragte ich Sophie.
    »Grünen Tee, wenn du magst.«
    Während der Tee in den Tassen abkühlte, gab Tina mir einen Wink, ihr zu folgen. Wir gingen ins Schlafzimmer, und sie forderte mich auf, mich im Spiegel anzuschauen. Ich sah verändert aus, vollkommen verzerrt, doch meine Augen waren rein und strahlten wie zwei kleine Tropfen Licht.
    Nachdem wir Tee getrunken hatten, fragte ich, was ich zu bezahlen hätte. Sie antwortete, ich könne ihr morgen ein Kilo Kaffee vorbeibringen, ihrer sei alle.
    Auf dem Nachhauseweg versuchte ich etwas über das herauszufinden, was mir widerfahren war. Ich wollte wissen, ob Sophie das Gleiche erlebt hatte. Sie erzählte, ab und zu gehe sie zu Tina, um sich umarmen zu lassen, auch wenn sie nicht immer dabei weine. Tina war mit Federico gut befreundet gewesen, durch ihn hatte Sophie sie kennengelernt. Im Dorf hieß sie Mulher do abraço, die Frau der Umarmung.

Wie Federico vorhergesagt hatte
    Vor ein paar Wochen habe ich einen jungen Mann interviewt, der von Geburt an blind war und nach einer Operation mit dreiundzwanzig plötzlich sehen konnte. Eine interessante, sehr aufwühlende Begegnung. Plötzlich sehen zu können ist für jemanden wie ihn so, als wäre man auf einem anderen Planeten gelandet. Die Dinge, die er zum ersten Mal sah, musste er immer noch berühren, um sie wiederzuerkennen. Proportionen und Entfernungen sagten ihm nichts, und so stieß er häufig sehenden Auges dagegen. Er wusste zum Beispiel nicht, dass ein Gegenstand, je ferner er ist, desto kleiner wird. Er gestand mir, dass er in der ersten Zeit Mühe hatte, sich daran zu gewöhnen, weil er sich völlig fremd fühlte. Es war so, als müsste er das Leben von vorn beginnen. Er hatte noch nie das Meer gesehen. Wir tauschten unsere Telefonnummern aus, und ich versprach ihm, gleich nach Alices Geburt mit ihm hinzufahren. Ich bin gespannt darauf, was er empfindet, wenn er es zum ersten Mal sieht.
    Ich hätte ihm gern eine Frage gestellt, die einmal aufgetaucht ist, als Federico und ich uns über Blinde und ihren Alltag unterhielten, aber natürlich habe ich mich nicht getraut: »Wann weiß ein Blinder eigentlich, dass sein Hintern sauber ist, wenn er es nicht am Klopapier sehen kann?«
    Wie hätte ich ihn so was fragen sollen?
    Am Tag nach meinem Besuch bei Tina hatte sich mein Leben verändert. Das Erwachen an jenem Morgen war unvergesslich. Ich fühlte mich leicht. Es ging mir gut

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