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Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Titel: Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gilbert Keith Chesterton
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(obwohl es nicht mehr zeitgemäß ist, das zu sagen), daß die menschliche Natur auch an höchster Stelle fähig bleibt, Cenci oder Borgia zu sein. Nein; was mich verwirrte, war die Ehrlichkeit beider Seiten. Damit meine ich nicht die politischen Parteien; die große Masse ist immer einigermaßen ehrlich und oft hintergangen. Ich meine die Personen im Spiel. Ich meine die Verschwörer, wenn es Verschwörer waren. Ich meine den Verräter, wenn er Verräter war. Ich meine die Männer, die die Wahrheit gewußt haben müssen. Aber Dreyfus verhielt sich wie ein Mann, der wußte, daß ihm Unrecht geschah. Und dennoch verhielten sich die französischen Staatsmänner und Offiziere, als ob sie wüßten, daß ihm kein Unrecht geschah, sondern daß er Unrecht getan hatte. Ich meine nicht, daß sie sich richtig verhalten haben; ich meine, sie verhielten sich, als seien sie sicher. Ich kann diese Dinge nicht beschreiben; ich weiß, was ich meine.«
    »Ich wollte, ich auch«, sagte sein Freund. »Und was hat das mit dem alten Hirsch zu tun?«
    »Stellen Sie sich vor, ein Mann in einer Vertrauensstellung«, fuhr der Priester fort, »begann dem Feind Informationen zuzuspielen, weil es falsche Informationen waren. Stellen Sie sich vor, er selbst glaubte, daß er sein Land rette, indem er den Feind in die Irre führte. Stellen Sie sich vor, das brachte ihn mit Spionagekreisen in Berührung, und ihm wurden kleine Geldgeschenke gemacht, und nach und nach wurde er mit kleinen Banden gebunden. Stellen Sie sich vor, er hielt diese zwiespältige Haltung in einer wirren Weise bei, indem er den ausländischen Spionen niemals die Wahrheit sagte, sie die aber mehr und mehr erraten ließ. Sein besseres Ich (was davon noch übrig war) sagte sich immer noch: ›Ich habe dem Feind nicht geholfen; ich habe gesagt, es war die linke Schublade.‹ Aber sein schlechteres Ich würde bereits feststellen: ›Aber vielleicht ist er klug genug zu begreifen, daß ich die rechte gemeint habe.‹ Das halte ich jedenfalls psychologisch für möglich – in einer aufgeklärten Zeit, wissen Sie.«
    »Es mag psychologisch möglich sein«, antwortete Flambeau, »und es würde sicherlich erklären, warum Dreyfus sicher war, daß ihm Unrecht geschah, und warum seine Richter sicher waren, daß er schuldig war. Aber historisch gesehen geht das nicht, denn Dreyfus’ Dokument (wenn es sein Dokument war) war buchstäblich korrekt.«
    »Ich dachte nicht an Dreyfus«, sagte Father Brown.
    Stille war um sie herum mit dem Leerwerden der Tische herabgesunken; es war schon spät, obwohl das Sonnenlicht sich noch überall hielt, als ob es sich zufällig in den Bäumen verhakt hätte. In diese Stille hinein verschob Flambeau scharf seinen Stuhl – wodurch ein einsames und widerhallendes Geräusch entstand – und warf den Arm über die Lehne. »Nun«, sagte er ziemlich harsch, »wenn Hirsch nicht besser ist als ein feiger Verratskrämer mit Nachrichten…«
    »Sie dürfen nicht zu hart über sie urteilen«, sagte Father Brown sanft. »Es ist nicht nur ihre Schuld; aber sie haben keinen Instinkt. Damit meine ich die Dinge, die eine Frau dazu veranlassen, mit einem Mann nicht zu tanzen, oder einen Mann, irgendwo nicht zu investieren. Man hat sie gelehrt, daß es immer auf das Maß ankomme.«
    »Jedenfalls«, rief Flambeau ungeduldig, »ist er gar nicht zu vergleichen mit meinem Duellanten; und deshalb werde ich das zu Ende bringen. Der alte Dubosc mag ein bißchen verrückt sein, aber schließlich ist er doch immerhin ein Patriot.«
    Father Brown fuhr fort, Brätlinge zu verspeisen.
    Irgend etwas in der gleichmütigen Art, in der er das tat, veranlaßte Flambeaus wilde schwarze Augen, seinen Gefährten erneut zu betrachten. »Was ist mit Ihnen los?« fragte Flambeau. »In der Beziehung ist Dubosc schon in Ordnung. Oder zweifeln Sie an ihm?«
    »Mein Freund«, sagte der kleine Priester und legte Messer und Gabel in einer Art kalter Verzweiflung nieder, »ich zweifle an allem. An allem, meine ich, das sich heute ereignet hat. Ich zweifle an der ganzen Geschichte, obwohl sie sich vor meinen Augen abgespielt hat. Ich zweifle an jedem Anblick, den meine Augen seit heute morgen gehabt haben. Irgendwas an dieser Sache ist völlig anders als das übliche Polizeirätsel, in dem der eine Mann mehr mehr oder weniger lügt und der andere Mann mehr oder weniger die Wahrheit sagt. Hier sind es beide Männer, die… Na schön! Ich habe Ihnen die einzige Theorie erzählt, die ich mir ausdenken

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