Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit
stöhnte er. ›Sie tun dem Manne eigentlich Unrecht. Verstehen Sie mich recht, ich habe keinen Grund, ihn zu verteidigen oder ihm auch nur die Treue zu wahren. Er war mir gegenüber ein Tyrann wie zu allen anderen. Denken Sie bloß nicht, weil Sie ihn hier sitzen gesehen haben, er sei kein großer Herr im übelsten Sinn des Wortes. Er würde einen Mann eine Meile weit herbeiholen, um eine Glocke zu läuten, die einen Meter neben ihm steht – um einen anderen Mann drei Meilen weit herbeizuholen, daß er ihm eine Streichholzschachtel bringe, die drei Meter neben ihm liegt. Er hält sich einen Diener, um seinen Spazierstock zu tragen; er hält sich einen Leibdiener, damit der ihm sein Opernglas hält –‹
›Aber keinen Kammerdiener, der ihm die Kleidung ausbürstet‹, fiel der Priester mit eigentümlicher Trockenheit ein, ›denn der Kammerdiener würde ihm auch die Perücke ausbürsten wollen.‹
Der Bibliothekar wandte sich ihm zu und schien meine Anwesenheit zu vergessen; er war sehr bewegt und, wie ich glaube, auch ein bißchen vom Weine befeuert. ›Ich weiß nicht, woher Sie das wissen, Father Brown‹, sagte er, ›aber Sie haben recht. Er läßt sich von der ganzen Welt bedienen – außer beim Ankleiden. Und er besteht darauf, das in buchstäblicher Einsamkeit wie in einer Wüste zu tun. Jeder wird ohne Zeugnis aus dem Haus geworfen, den man auch nur in der Nähe der Tür seines Ankleidezimmers antrifft.‹
›Scheint ja ein lustiger alter Kauz zu sein‹, bemerkte ich.
›Nein‹, erwiderte Dr. Mull einfach; ›und doch ist es gerade das, was ich meinte, als ich sagte, Sie täten ihm eigentlich Unrecht. Meine Herren, der Herzog empfindet tatsächlich ob des Fluches jene Verbitterung, die er eben äußerte. Er verbirgt in ehrlicher Scham und Furcht unter jener purpurnen Perücke etwas, von dem er glaubt, sein Anblick würde die Kinder der Menschen vernichten. Ich weiß das; und ich weiß, daß es nicht nur eine natürliche Mißbildung ist, wie etwa die Verstümmelung eines Verbrechers, oder eine erblich bedingte Disproportion seiner Züge. Ich weiß, daß es schlimmer ist als so etwas; denn ein Mann hat es mir erzählt, der dabei war, als sich eine Szene abspielte, die niemand erfinden kann und in der ein Mann, der stärker ist als jeder von uns, das Geheimnis zu lüften versuchte und einen tödlichen Schrecken davontrug.‹
Ich öffnete den Mund und wollte etwas sagen, aber Mull, der mich vollständig vergessen hatte, sprach weiter aus der Höhlung seiner Hände heraus. ›Ich erzähle Ihnen davon, Father, denn es dient eher zur Verteidigung des armen Herzogs, als daß es ihm schadete. Sie haben doch sicher von jener Zeit gehört, als er beinahe seine ganzen Besitzungen verloren hat?‹
Der Priester schüttelte den Kopf; und der Bibliothekar erzählte die Geschichte, wie er sie von seinem Vorgänger im Amt vernommen hatte, der sein Vorgesetzter und sein Lehrer gewesen war und dem er unbegrenzt zu vertrauen schien. Bis zu einem gewissen Punkt war es die ach so gewöhnliche Geschichte vom Niedergang eines großen Familienvermögens – die Geschichte eines Familienanwalts. Dieser Anwalt aber betrog sozusagen ehrlich, wenn dieser Ausdruck verständlich ist. Er vergriff sich nicht etwa an den Mitteln, die ihm zur Verwaltung übergeben waren, sondern er benutzte die Sorglosigkeit des Herzogs, um die Familie in eine finanzielle Klemme zu manövrieren, in der der Herzog sich gezwungen sehen mußte, sie ihm als Eigentum zu übergeben.
Der Name des Rechtsanwaltes war Isaac Green, aber der Herzog nannte ihn nur Elisha; vielleicht weil er schon völlig kahl war, obwohl noch kaum dreißig. Er war sehr rasch aus sehr schmutzigen Anfängen aufgestiegen; zuerst war er ein Spitzel oder Informant der Polizei gewesen, und dann ein Geldverleiher: aber als Anwalt der Eyres hatte er Verstand genug, wie ich schon gesagt habe, sich absolut korrekt zu verhalten, bis er bereit war, den endgültigen Schlag zu führen. Der Schlag fiel beim Abendessen; und der alte Bibliothekar erzählte mir, er werde niemals vergessen, wie die Lampenschirme und die Karaffen aussahen, als der kleine Anwalt mit gelassenem Lächeln dem großen Grundherrn vorschlug, sie sollten die Besitzungen untereinander je zur Hälfte teilen. Die Folgen waren unübersehbar; denn der Herzog zerschlug in tödlichem Schweigen eine Karaffe auf dem kahlen Schädel des Mannes, so jäh, wie ich selbst ihn das Weinglas an jenem Nachmittag im Obstgarten hatte
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