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Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit

Titel: Einfalt, Weisheit, Unglaeubigkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gilbert Keith Chesterton
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Father Browns Gesicht schien nichts als äußerste Pein auszudrücken; er blickte mit einer Schmerzensfalte auf der Stirn zu Boden. Der Prophet der Sonne lehnte sich leicht gegen den Kaminsims und fuhr fort:
    »Mit wenigen Worten habe ich Ihnen den ganzen Fall gegen mich vorgetragen – den einzig möglichen Fall gegen mich. Mit noch weniger Worten werde ich ihn in Stücke sprengen, so, daß auch nicht eine Spur von ihm bleibt. Zur Frage, ob ich das Verbrechen begangen habe, die Antwort in einem Satz: Ich kann dieses Verbrechen nicht begangen haben. Pauline Stacey stürzte von diesem Stockwerk um 5 Minuten nach 12 in die Tiefe. Hundert Menschen werden in den Zeugenstand gehen und aussagen, daß ich draußen stand auf dem Balkon meiner eigenen Räume, von kurz vor Beginn des Mittagsläutens bis Viertel nach – die übliche Zeitlänge meiner öffentlichen Gebete. Mein Sekretär (ein achtbarer Jüngling aus Clapham, der in keinerlei Beziehung zu mir steht) wird beschwören, daß er während des ganzen Morgens in meinem Vorzimmer saß und daß während dieser Zeit niemand durch das Vorzimmer gegangen ist. Er wird beschwören, daß ich volle 10 Minuten vor der Zeit eintraf, 15 Minuten vor den ersten Gerüchten über den Unfall, und daß ich mich während der ganzen Zeit entweder im Büro oder auf dem Balkon aufgehalten habe. Noch nie hat jemand ein so vollkommenes Alibi gehabt; ich könnte halb Westminster in den Zeugenstand rufen lassen. Ich glaube, Sie sollten die Handschellen lieber wieder wegstecken. Der Fall ist zu Ende.
    Zum Schluß aber, und damit auch nicht ein Hauch dieser idiotischen Verdächtigung in der Luft bleibe, will ich Ihnen alles erzählen, was Sie wissen wollen. Ich glaube zu wissen, wie meine unglückliche Freundin zu Tode kam. Wenn Sie wollen, können Sie mich, oder wenigstens meinen Glauben und meine Philosophie, dafür verantwortlich machen; aber mit Sicherheit können Sie mich nicht einsperren lassen. Allen, die sich je dem Studium der höheren Wahrheiten gewidmet haben, ist wohlbekannt, daß im Lauf der Geschichte gewisse Eingeweihte und Illuminati die Fähigkeit der Levitation erreicht haben – das heißt, daß sie in der freien Luft schweben konnten. Das ist nur ein Teil jener allgemeinen Eroberung der Materie, die das Hauptelement unseres okkulten Wissens ist. Die arme Pauline war von impulsivem und ehrgeizigem Temperament. Und, um die Wahrheit zu sagen, glaube ich, daß sie sich bereits tiefer in die Geheimnisse eingedrungen wähnte, als sie es war; und oftmals sagte sie zu mir, wenn wir im Lift mitsammen abwärts fuhren, daß wessen Wille stark genug sei, wie eine Feder ungefährdet abwärts schweben könne. Ich bin der festen Überzeugung, daß sie in der Ekstase edelster Gedanken das Wunder versucht hat. Ihr Wille oder ihr Glaube müssen sie im kritischen Moment im Stich gelassen haben, und die niedereren Gesetze der Materie haben ihre furchtbare Rache genommen. Das also ist die ganze Geschichte, meine Herren, sehr traurig und nach Ihren Vorstellungen sehr vermessen und sehr gottlos, jedoch auf keinen Fall verbrecherisch oder in irgendeinem Zusammenhang mit mir. In der Kurzschrift der Polizeigerichte sollten Sie es besser Selbstmord nennen. Ich aber werde es immer ein heroisches Scheitern im Dienste des wissenschaftlichen Fortschritts und des langsamen Erklimmens des Himmels nennen.«
    Zum ersten Male überhaupt sah Flambeau Father Brown besiegt. Er saß immer noch da und blickte mit schmerzvoll verzogenen Brauen zu Boden, als schämte er sich. Es war unmöglich, sich dem Gefühl zu entziehen, das des Propheten beflügelte Worte angefacht hatten, daß hier ein tumber professioneller Verdächtiger seiner Mitmenschen von einem stolzeren und reineren Geist natürlicher Freiheit und Gesundheit überwältigt worden sei. Schließlich sagte er blinzelnd wie in körperlichen Schmerzen: »Nun ja, wenn das so ist, Sir, brauchen Sie nichts anderes mehr zu tun, als jenes Testamentspapier zu nehmen, von dem Sie gesprochen haben, und zu gehen. Ich frage mich, wo die arme Dame es gelassen hat.«
    »Es wird da drüben auf ihrem Tisch nahe der Tür sein, nehme ich an«, sagte Kalon in jener massiven Unschuld des Verhaltens, die ihn völlig freizusprechen schien. »Sie sagte mir ausdrücklich, sie werde es an diesem Morgen schreiben, und wirklich habe ich sie schreiben gesehen, als ich im Fahrstuhl hoch zu meinen Räumen fuhr.«
    »War die Tür da auf?« fragte der Priester und blickte auf eine Ecke des

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