Eingesperrt - Jessica Daniel ermittelt (German Edition)
hielt den Atem an und hob die Füße hoch, ohne zu wissen, warum. Sie lauschte, wie die andere Person eine Kabine neben ihr betrat und wartete auf die Klospülung und das Wasserrauschen vom Waschbecken. Dann hörte sie, wie die Tür erneut auf- und zuging, und sie war wieder allein.
Jessica war nie besonders emotional gewesen. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte sie zum letzten Mal geweint, als Carolines Eltern gestorben waren. Das war fast zehn Jahre her. Carolines tiefe Trauer hatte sie sehr mitgenommen, aber auch ihre Beziehung zueinander gestärkt. Jessica hatte den Schmerz ihrer Freundin wirklich mitempfunden und sie hatten bei beiden Beerdigungen zusammen geweint. Sie waren so gute Freundinnen und doch so gegensätzlich. Während Jessica als Zuschauerin eher kaltschnäuzig war, fing Caroline ständig an loszuheulen – bei Filmen, Internet-Videos, irgendwelchen Zeitungsberichten und einmal sogar bei einer Fernsehwerbung. Andererseits war Jessica ein Hitzkopf und wurde schnell wütend. Caroline hingegen war immer ganz gelassen, und kaum etwas konnte sie aus der Ruhe bringen. Sie zogen sich auch ständig gegenseitig auf. Wenn sie zusammen vor dem Fernseher saßen und in einer Sendung tauchte ein Tier auf, warf Jessica eine Schachtel Kleenex in Carolines Richtung, »nur falls du wieder anfängst loszuheulen«. Dafür hatte Caroline eine Skala für Jessicas Gemütszustände entwickelt – von »leicht fluchanfällig« über »besonders fluchfreudig« bis zu »vulkanisch-eruptiv«. Was sie wohl zu Jessicas Gefühlsausbruch im Vernehmungsraum gesagt hätte?
Natürlich waren Carolines Neckereien nicht böse gemeint, aber Jessica fragte sich, ob ihre Gemütsschwankungen nicht langsamzum Problem wurden. Sie konnte nicht so richtig verstehen, warum sie plötzlich heulen musste. War sie vielleicht von ihrem eigenen Verhalten beim Verhör schockiert, war es ihr peinlich oder machte sie sich deswegen sogar Sorgen um ihre Zukunft? Und warum hatte sie sich überhaupt so sehr von Wayne Lapham reizen lassen?
Jessica atmete tief durch und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Im Grunde glaubte sie nicht, dass Lapham der Mörder war. Er hatte ein ellenlanges Vorstrafenregister, aber nichts deutete darauf hin, dass er fähig war, zwei brutale Morde zu begehen. Sie glaubte ihm auch, dass sein Leben so trostlos war, wie er beschrieb. Dass er zwischen Kneipe und Wohnung pendelte und vielleicht zwischendurch die ein oder andere Straftat beging. Er wirkte auch nicht intelligent genug für diese Taten. Jemand hatte geschickt nicht nur alle Spuren beseitigt, sondern auch alle Hinweise darauf, wie die Taten verübt worden waren.
Könnte Wayne Lapham wirklich einen Plan ausgeheckt haben, um in das Haus einzudringen und wieder zu verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen? Er war einfach ein brutaler Schlägertyp. Außerdem war Jessica sich sicher, dass er die Einbrüche ein Jahr zuvor verübt hatte. Durch offene Fenster einzusteigen, das war ganz sein Stil. Aber die Durchführung dieser Morde war äußerst raffiniert. Und Raffinesse war sicher nicht seine Stärke. Wahrscheinlich konnte er das Wort nicht einmal buchstabieren.
Umso mehr wunderte sie ihr eigenes Verhalten. Warum hatte sie ihn bedroht? Aber was auch immer der Grund war, falls es überhaupt einen gab, eines hatte sie bei ihrem Ausbruch herausgefunden. Es stand in Laphams Augen geschrieben, als er in Panik geriet und hilfesuchend seinen Anwalt ansah. Er hätte niemals gewagt, sie anzufassen. Trotz seiner großen Klappe hatte er es wirklich mit der Angst zu tun bekommen. Für Jessica stand fest, der Mann war kein Mörder.
Sie trocknete sich die Tränen ab und öffnete die Kabinentür. Sie prüfte ihr Aussehen im Spiegel, strich ihre Haare glatt und band sie wieder zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie musste siesich dringend mal schneiden lassen. Sie zupfte an ihrem Kostüm herum und ging hinaus.
Der Gang war gespenstisch ruhig. Es war zwar Wochenende, aber trotzdem … Die Stille dröhnte in ihren Ohren. Auf dem Weg zu ihrem Büro überlegte sie, ob sie nach Hause gehen sollte oder ob es noch etwas zu tun gab. Sicher war noch der Papierkram wegen Laphams Freilassung zu erledigen.
Im Flur an der Ecke stieß sie fast mit Cole zusammen. Beide wichen zurück. »Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Ja, mir geht’s gut.«
»Was war denn da drin los? Hunt war außer sich vor Wut. Er ist regelrecht nach oben
gerannt
, um mit dem Chief Inspector zu reden, und ist kurz
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