Eingesperrt - Jessica Daniel ermittelt (German Edition)

es hörte sich einfach falsch an. Sie wusste, ihre Antwort würde keinen guten Eindruck machen, wollte aber nicht lügen. »Einmal«, sagte sie, vielleicht etwas leiser als bisher, und unwillkürlich sah sie dabei nach unten. In gespielter Überraschung, die anscheinend zur Standardausbildung für Anwälte gehörte, schreckte er bei ihrer Antwort auf. Wahrscheinlich mussten Jurastudenten direkt am ersten Tag, noch bevor sie auch nur ein Buch in die Hand nahmen, zeigen, dass sie erstaunt dreinschauen konnten, auch wenn sie etwas hörten, was sie schon längst wussten. Falls Hunt jemals seine Zulassung als Anwalt verlor, konnte er immer noch im Fernsehen in einer Nachmittagsserie mitspielen.
    »Nur einmal?«
    »Ja.«
    Hunt tat noch einmal leicht erstaunt, wandte sich den Geschworenen zu und argumentierte, sie könne Harry gar nicht so gut kennen, wenn sie in den letzten Monaten nur einmal mit ihm gesprochen hatte. Damit hatte er natürlich nicht ganz unrecht.
    Der Mann im Anzug machte weiter hektisch Notizen, während Hunt fortfuhr: »Nach ihrer Einschätzung … trinkt Mr Thomas viel?«
    »Kommt drauf an, wie Sie viel definieren.«
    »Okay, lassen Sie es mich anders ausdrücken. Haben Sie schon einmal erlebt, dass Mr Thomas im Dienst Alkohol getrunken hat?«
    »Eigentlich nicht.«
    »Also ja?«
    »So einfach kann man das nicht beantworten.« Im Grunde hatte Jessica die meisten Beamten schon einmal im Dienst trinken sehen. Sie erklärte den Geschworenen, dass es manchmal einfacher war, jemanden im Pub zu befragen, weil die Leute sich dort wohler fühlten. Dass man manchmal schon vor Dienstschluss mit Kollegen einen trinken ging, behielt sie lieber für sich. Harry ging zwar nicht mit den anderen in den Pub, aber sie hatte schon öfter miterlebt, dass er jemandem bei einem Bier Informationen entlockte.
    Hunt hörte zu und nickte, als hätte sie nur seine Annahme bestätigt. Sicherheitshalber fügte er noch hinzu: »Selbst wenn mansich mit Zeugen im Pub trifft, heißt das doch nicht, dass man selbst Alkohol trinken muss, oder?«
    »Nein«, gab Jessica zu.
    Hunt war jetzt so richtig in Fahrt. »Haben Sie jemals beobachtet, dass Mr Thomas sich im Dienst bedenklich verhalten hat?«
    Auch diese Frage ließ sich nicht so leicht beantworten. Sie hatte oft gesehen, wie Harry diesem Obdachlosen für seine Informanten Geld oder etwas zu essen gegeben hatte. Und was war mit dem braunen Umschlag, den er ihm zugesteckt hatte, weil sie aufgrund seines Tipps jemanden hatten verhaften können? War das »bedenkliches Verhalten«? Man könnte es sicher als Zeugenbestechung auslegen. Sie hatte auch schon miterlebt, dass er jemandem bei einer Vernehmung vorgaukelte, mehr zu wissen, als er tatsächlich wusste. Das war natürlich Irreführung, aber war es »bedenklich«?
    »Nein«, antwortete sie.
    »Nie?«
    »Niemals.«
    Hunts nächste Frage brachte sie aus dem Konzept. »Haben Sie sich jemals selbst im Dienst bedenklich verhalten?«
    Sie sah ein böses Glitzern in seinen Augen, fast als würde er ihr zuzwinkern. Wahrscheinlich bildete sie es sich nur ein, aber die Frage hatte es in sich. Sie dachte an das Verhör mit Wayne Lapham. Der Staatsanwalt sprang auf und erhob Einspruch, da schließlich nicht Jessica auf der Anklagebank saß. Der Richter wies die Frage zurück. Aber Hunt hatte sie nicht gestellt, weil er eine Antwort erwartete. Er wollte sie nur aus der Reserve locken.
    Er sah jetzt nicht mehr die Geschworenen an, sondern fixierte Jessica mit starrem Blick. Wenn seine vorherige Frage sie nervös gemacht hatte, so war die nächste erst recht darauf angelegt, sie zu provozieren. »Hatten Sie je ein Verhältnis mit Mr Thomas?«
    Diesmal konnte sie ganz deutlich ein Grinsen in seinem Gesicht erkennen, das die Geschworenen allerdings nicht sehen konnten. Der Staatsanwalt erhob wieder Einspruch, aber Hunt versicherte dem Richter, die Frage sei legitim. Er wies darauf hin, dass eineLiebesbeziehung zwischen den beiden Zweifel an Jessicas Aussage aufwerfen würde.
    Der Richter entschied, dass sie die Frage nicht zu beantworten brauchte. Jessica blickte jedoch zu den Geschworenen hinüber und sagte: »Nein.« Sie sah den mutmaßlichen Sprecher und die beiden jungen Frauen an, die drei Leute, die sie überzeugen musste. Aber ihre Antwort war ohnehin irrelevant. Hunt glaubte nicht wirklich, dass sie etwas mit Harry gehabt hatte. Aber er wollte es den Geschworenen suggerieren und Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit säen. Jessica wandte sich