Eingesperrt - Jessica Daniel ermittelt (German Edition)
sie verstand, dass er es ernst meinte.
»Warum denn nicht?«
»Wissen Sie, dass sie mich nicht ein einziges Mal besucht hat?«
»Und deswegen ist Ihnen ihr Tod gleichgültig?«
Shaun ignorierte die Frage und sah zu den Fenstern hoch. »Haben Sie mit Em gesprochen?«
»Mit Ihrer Schwester? Ja.«
»Sie hat mich ein paarmal besucht. Sie hat sogar gesagt, sie will mir helfen, wenn ich rauskomme.«
»Das ist nett von ihr.«
»Ja. Sie hat ziemlich viel auf die Beine gestellt, seit sie zu Hause ausgezogen ist. Sie hat Ihnen sicher erzählt, womit Mum ihr Geld verdient hat.«
»Ja.«
Jessica wusste nicht so recht, was sie sich von dem Gespräch mit Shaun versprach. Was konnte er schon wissen, was sie nicht bereits von Kim und Emily gehört hatte? Zumal er seine Mutter seit über zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Aber sie musste einfach weiterbohren, schließlich hatte sie keine einzige Spur. Vielleicht konnte er ihr ja doch irgendwelche Einblicke verschaffen.
»Warum sind Sie ausgezogen?«, fragte sie.
Shaun schüttelte den Kopf und rieb sich dann die Stirn. »Ich wollte einfach weg. Ein paar Jahre davor hatte Mum das Haus aufgegeben, weil sie pleite war, und war in die Wohnung gezogen. Sie war ständig besoffen. Außerdem war es einfach zu eng. Em war damals schon etwas älter. Sie ist sofort ausgezogen. Ich wusste einfach nicht, was ich da noch sollte, also bin ich auch abgehauen. Ein Schulfreund von mir meinte, hier in der Gegend gäbe es Arbeit auf dem Bau, also bin ich mitgekommen. Ich hatte ja sowieso nichts Besseres vor.«
»Wie alt waren Sie da?«
»Sechzehn. Ich hab die ersten Monate in einem verlassenen Pub gehaust. Es war eine tolle Zeit. Die Arbeit war einfach und Geld gab’s bar auf die Hand. Niemand hat irgendwas gesagt.«
»Haben Sie nach Ihrem Auszug Ihre Mutter nicht mehr gesehen?«
»Doch, ich bin ein paarmal zurück, aber sie wohnte immer noch mit Kim in der Wohnung und sie hat nicht mehr gesoffen, stattdessen …«
Jessica zögerte kurz, bevor sie fragte: »Und wie sind Sie hier gelandet?«
»Das war meine eigene Schuld. An dem Tag hatte ich Mum besucht und wir hatten uns gestritten. Es ging mir eigentlich gar nicht schlecht. Ich hatte ein bisschen Geld verdient und eineeigene Wohnung. Ich habe gesagt, sie soll ihr Leben in den Griff kriegen – wenigstens Kim zuliebe. Emily hatte auch schon so was zu ihr gesagt.«
»Und was war dann?«
»Ich weiß nicht so genau. Als ich zurück war, habe ich mich betrunken und dann … ist es einfach passiert.«
»Ich meinte den Streit mit Ihrer Mutter.«
Shaun sah Jessica an. Dann wandte er den Blick wieder ab. »Sie hat gesagt, es sei meine Schuld.«
»Was denn?«
»Alles.«
Jessica verstand nichts mehr. Sie sah Cole an, der auch ein wenig verwirrt aussah und fragte: »Wieso hat sie Sie denn verantwortlich gemacht?«
Shaun schloss die Augen und seufzte anhaltend. Jessica war sich nicht sicher, ob er antworten würde. Aber dann sagte er ganz ruhig: »Weil es meine Schuld ist.«
Seine Augen füllten sich mit Tränen. Jessica hatte das Gefühl, dass er noch etwas Wichtiges zurückhielt. »Warum ist es denn Ihre Schuld?«
Shaun starrte auf einen Punkt auf dem Tisch und sprach ganz langsam: »Als Dad abgehauen ist, haben wir uns ganz gut geschlagen. Es war nicht einfach, aber Mum hat dafür gesorgt, dass wir alle zusammenblieben. Dann … ist alles kaputtgegangen. Nur meinetwegen.«
Jessica rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn und beugte sich vor. »Was haben Sie denn gemacht?«
Shaun wischte sich die Tränen mit seinem Ärmel weg und sah sie an: »Das kann ich nicht sagen.«
»Doch, Sie können es uns ruhig sagen.«
»Nein. Ich komme bald raus und ich will ein normales Leben. Em hilft mir dabei.«
»Shaun …« Er sah hoch. Ihre Blicke trafen sich. »Jemand hat letzte Woche Ihre Mutter umgebracht. Alles, was Sie sagen, kann uns helfen, ihren Mörder zu finden.«
Shaun schloss die Augen und stieß erneut einen tiefen Seufzer aus. Dann sah er Jessica mit starrem Blick an. Seine Augen zogen sich leicht zusammen und er sagte leise, aber deutlich: »Nigel Collins.«
F ÜNF J AHRE UND Z EHN M ONATE FRÜHER
Shaun war zwar einer der Älteren, aber er hatte Schwierigkeiten, mit den anderen drei Jungen mitzuhalten. Sie lachten und jauchzten, während sie durch das mit Trümmern und Altmetall übersäte und von Gras überwachsene Brachland rannten. Shauns Dad hatte ihm, als er noch da war, erzählt, dass hier einst Fabriken standen. Aber die
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