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Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition)

Titel: Einhorn, Phönix, Drache: Woher unsere Fabeltiere kommen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef H. Reichholf
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Welt aus. Der rein weiße Schneekranich eignet sich in gleicher Weise wie der weiße Schwan zum Symbol des Unbefleckten wie die schwarzen Raben, Krähen, Katzen, Spinnen oder Schlangen zu den Mächten der Finsternis passen. Der edle Ritter kommt auf dem makellosen Schimmel; der schwarze Ritter verheißt nichts Gutes. Seine Ankunft macht den Tag vielleicht zum Schwarzen Tag. Die Schwarze Witwe, die giftige Spinne Latrodectus mactans , erregt in dieser Wortverbindung ungleich mehr Angst als die weitaus größere, aber eher harmlos benannte Vogelspinne. Schwarze Kreuzottern ( Vipera berus ) nennt der Volksmund Höllenotter und hält sie für giftiger als die gewöhnliche Kreuzotter. Die weiße Taube hingegen beruhigt gleich doppelt, mit Weiß und Taube kann gar nichts Gefährliches verbunden sein. Beispiele dieser Art ließen sich beinahe beliebig weiter ausbreiten. Darin drückt sich aus, dass wir offenbar unserer Natur nach geneigt sind, einseitig zu urteilen. Entsprechend verstärkt die Fabel die Zielsetzung durch Übertreibungen. Das erleichtert es den Zuhörern, die (angestrebte) Position zu finden und Lehren daraus zu ziehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach steckt ein wichtiges Überlebensprogramm dahinter.
    Die blitzartige Zuordnung vermindert den unter Umständen riskanten Zeitverlust, wenn es darum geht, etwas potentiell Gefährliches richtig einzuordnen. Wer zu lange zögert, um genau genug zu prüfen, überlebt die Prüfung womöglich nicht. So ist es immer noch besser, sich 99-mal bei einer harmlosen Schlange geirrt zu haben, wenn dadurch auch die hundertste und tödlich giftige rechtzeitig gemieden wird. Wer sich genauer mit den Schlangen befassen möchte, lernt von Lehrmeistern oder durch geduldiges Beobachten ihres Verhaltens und setzt sich nicht dem Risiko des eigenen Versuchs mit der Möglichkeit von Irrtum aus. Die Beherrschung tödlich giftiger Kobras durch Schlangenbeschwörer stellt das Vorsichtsprinzip der angeborenen Schlangenfurcht nicht in Frage. Ganz im Gegenteil: Die Notwendigkeit, sich erst spezielle Kenntnisse angeeignet zu haben, bevor man einen sicheren Umgang mit solchen Tieren pflegen kann, bestätigt die Notwendigkeit der instinktiven Reaktion. Grundsätzlich Gleiches gilt für die Spinnen und die nicht nur beim Menschen, sondern auch bei anderen Primaten vorkommende Spinnenphobie.
    Infolgedessen spielen gefährliche, schwer einzuschätzende Tiere in der Mythologie eine beträchtliche Rolle. Löwen und Adler, Bären und sogar Wölfe bleiben gleichsam auf der positiven Seite, weil ihre Vorzüge zählen. Sie können zu Totemtieren stilisiert werden und Macht symbolisieren. Schlangen, Skorpione, Spinnen und »anderes Gewürm«, wie es häufig heißt, gehören zur anderen, zur negativen Seite. Ihnen kommen besondere Funktionen zu. So ist es in der biblischen Vertreibung aus dem Paradies die Schlange, die Eva dazu verleitet, das Gebot des Herrn zu missachten und den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu pflücken. Der schlaue Fuchs wäre für ein derartiges Vergehen nicht in Frage gekommen. Edle Tiere, wie das Pferd, erhalten noble Aufgaben, etwa als geflügelter Pegasus wichtige Botschaften schnellstmöglich zu übertragen oder als Sleipnir der Germanen ähnliche Funktionen zu erfüllen. Dieses Grundmuster findet sich offenbar überall. Es zwingt geradezu dazu, die Deutungen, um welche Tiere es sich im konkreten Fall der Suche nach dem Ursprung eines Mythos gehandelt haben könnte, daraufhin zu überprüfen.
    Von den bisher behandelten erfüllen Flamingo wie Kronenkranich sicherlich dieses Kriterium eines edlen Vorbildes für den Phönix, wie auch das phönizische Rot, der Purpur, das Beste unter den antiken Farben repräsentiert. Schwan und Schneekranich gehören zu Vögeln, die sich nicht nur ihres makellosen Äußeren wegen für besondere mythologische Rollen eignen. Von dieser Warte aus betrachtet, wird es umso unwahrscheinlicher, dass im Mythos von Keyx und Alkyone tatsächlich der winzige Eisvogel gemeint gewesen sein konnte. Nachtigall und Lerche gehören zu den eindrucksvollsten Sängern der europäischen Vogelwelt. Welche Lerche auch immer Shakespeare im Sinn gehabt haben mochte, jede der beiden in Frage kommenden Arten erfüllt das Kriterium. Geht es aber um etwas eher Blamables oder Lächerliches, dann dürfen auch weniger angesehene Tiere herangezogen werden. So zum Beispiel bei den Gänsen, die mit ihrem Schnattern Rom gerettet haben. Das geschah nach Livius im Jahre 387 v.Chr. als

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