Einkehr zum toedlichen Frieden
stolperte ein
Vermesser zufällig über eine auf dem Boden liegende Granate. Er rief den
Kampfmittelräumdienst, und der entdeckte ein ganzes Granatengrab, dreißig
Sprengkörper, von denen zwölf flüssig, also mit Kampfgas gefüllt waren.«
»Das ist doch lebensgefährlich!«
»Ja sicher dat, aber weißt du, was die Behörden uns Anwohnern
jeraten haben: Wir sollten ins Wirtshaus gehen oder die Rollläden
runterlassen.«
»BILDzeitung auf den Kopf beim Atomkrieg«, murmele ich fassungslos
und frage: »Und dann?«
»Und dann wurden die Granaten zum Kampfmittellager nach Helenenberg
bei Trier gebracht. Aber die Leute, die da wohnten, regten sich so darüber auf,
dass die Rejierung beschloss, dat Teufelszeug wieder nach Hallschlag
zurückzuschaffen.«
»Ist nicht wahr!«
»Ist wahr. Alles kam zurück, und wir fielen aus allen Wolken. Hier
wohnen viel weniger Leute, hieß es, und dann ließ das Innenministerium
Fluchthauben an uns verteilen.«
Fluchthauben. Was ist das denn für eine
Mode? Aber eigentlich will ich gar nicht wissen, was das war, nur, ob heute
noch irgendeine Gefahr besteht.
»Für die nächsten fünfzig Jahre sind wir angeblich sicher«, erklärt
Fine. »Da schützt uns der Deckel. Auch wenn ich immer noch glaube, dass meine
Migräne von dem Mist da unten kommt. Und von dem Windrad natürlich. Aber wenn
du jetzt mit Linus über dat Jelände jehst, siehst du eine janz friedliche
Landschaft. Mit seltenen Blumen und Tieren, die sich in den vergangenen
fünfzehn Jahren unjestört ansiedeln konnten. Da ist ein ganz lieblicher Teich.
Musste dir mal ansehen. Den nennen wir den Wolfgangsee, weil ein
Kampfmittelräumer, der Wolfgang hieß, da mal mit seine Jummistiefel
festgesteckt hat. Wenn du also jetzt über dat Jelände jehst, wirst du glauben,
an einem der letzten unberührten Paradiese der Natur zu sein. Schau doch, wie
schön der Jinster blüht. Eifeljold. So heißt dat.«
Sie deutet auf eine goldgelbe Hecke, nimmt meine Hand, drückt sie in
Linus’ Halsband, wünscht mir einen schönen Spaziergang und schlendert zu ihrem
Hof an der Hauptstraße zurück.
Ich suche eine Stelle, an der die Böschung für einen Menschen meiner
Statur nicht so schwer zu bezwingen ist, und klettere auf das Verbotsgelände.
Oben angekommen, atme ich tief durch. Fine hatte recht. Eine so schöne, eine so
friedliche Gegend habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Wie die
Spielzeuglandschaft eines Eisenbahnmodells liegt das kleine Hallschlag unter
mir. Träge drehen sich die Blätter einiger – aus der Ferne gesehen – winziger
Windräder. Um mich herum blüht eine Vielzahl von Blumen, deren Namen ich nicht
kenne. Und jede Menge Ginster. Ich hole tief Luft und versuche, Ordnung in mein
Hirn zu bringen.
Als Journalistin bin ich zwar gewohnt, in kurzer Zeit eine Vielzahl
von Informationen verarbeiten zu müssen, aber jetzt wirbeln durch meinen Kopf
Gedankenfetzen wie die Schirmchen einer Pusteblume in alle Richtungen.
Wie schlicht doch die Vorstellung gewesen war, dass meine Mutter
wegen meiner werdenden Existenz ihre Heimat verlassen hatte! Vielleicht hatte
sie Maria Christensen, die Frau ihres Liebhabers, umgebracht, vielleicht war
sie tatsächlich vergewaltigt worden und wusste nicht, wer mein Vater war,
vielleicht hatte sie nur keine Lust gehabt, sich um ihre eigene Mutter zu
kümmern, vielleicht hatte der Tod ihres Vaters sie tief getroffen, aber
vielleicht war alles doch wieder ganz anders gewesen.
Herausfinden werde ich das wohl nie. In meiner Macht liegt es
höchstens, herauszufinden, ob nicht vielleicht doch Werner Arndt mein Erzeuger
war. Sobald der rammdösige Alte wieder auftaucht, werde ich ihn besuchen.
Könnte ja sein, dass sich die Stimme des Blutes meldet. Wie wird wohl ein
Mensch reagieren, dem ich auf den Kopf zusage, meine Mutter vergewaltigt zu
haben?
Linus rennt los. Er jagt ein kleines Tier, das so aussieht, wie ich
mir einen Fuchs vorstelle.
»Linus!«, rufe ich mit der autoritärsten Stimme, die mir zur
Verfügung steht. Total erstaunt sehe ich den Hund innehalten. Er spitzt die
Ohren und kehrt rasch zu mir zurück. Wahrscheinlich hat er eingesehen, dass der
Fuchs nicht einzuholen ist und deshalb dankbar der Stimme seiner neuen Herrin
gehorcht.
»Sitz!«, befehle ich, als er den massigen Körper gegen meine Wade
drückt. Hechelnd rückt er von mir ab und setzt sich mir zu Füßen. Ich kraule
ihm etwas verunsichert den Kopf. Sollte es wirklich so einfach sein, einen
halben
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