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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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hineingetrieben, bei dieser Vorgeschichte!, dachte ich mir dazu. Als hätte ich vergessen, dass ich einmal Priester werden wollte und dann Papst.
    Da würde es enden, noch so eine Geschichte, und dann - der Muttermalträger, so dachte ich gelegentlich schon in der dritten Person, wenn ich an mich dachte, wer weiß, wie lange er noch zu leben hat, und dann würde er plötzlich da stehen, vor Gottes Thron. So sehr hatte ich davor Angst, »ich« zu denken, dass ich auf das »er« auswich, als wäre das ein anderer.
     
Warum war er hierhergefahren?
     
    Das war die Geschichte von meiner Reise bis zu jener südlichsten Stelle auf der Welt, die trockenen Fußes erreichbar ist. Und nicht weiter, wo es weitergegangen wäre.
     
    Das war die Geschichte von meinem Onkel, die keine Geschichte war. Und so enden alle Geschichten.
    So endeten alle Geschichten, und die Geschichte von Fritz endete so: Da kam ein Brief aus Deutschland. Er solle nach Hause kommen, wenigstens zum Sterben. Nicht sofort, irgendwann, bald, sagt der Brief. Bald darauf verlädt Fritz das Wichtigste, aber nicht alles kann mit. So lässt er das meiste an Ort und Stelle. So lässt er das Haus zurück, mit allem, was drinnen war. Mario drängt zum Einsteigen. Im Hof läuft der Chevrolet warm. Hat er nicht genug Zeit gehabt? Er muss noch einmal zurück. Hat er vergessen abzuschließen? So eine Abreise! Jetzt war er so lange hier, aber zu einem richtigen Abschied bleibt keine Zeit mehr. Dann fahren sie los.
    Was machst du so früh auf den Beinen, alter Freund?
    Es ist Nacht, als sie die weite Landstraße hinausfahren. Der Rest ist schnell erzählt. Die Fahrt zum Flugplatz. Die Maschine nach Buenos Aires. Derselbe Weg wie damals. Weiter nichts. Ist er so still, weil er so bewegt ist?
    Wir fahren seit etwa zwei Stunden. Die Sonne ist längst aufgegangen, ein Tag wie immer. Auf dieser Straße, der einzigen, die Patagonien mit der Welt verbindet, ist nichts los. Transamericana, keine Umwege, immer geradeaus, das macht müde.
    Die Pappeln aufrecht wie immer. Vom kleinsten Rinnsal weg Pappeln in den Himmel. Wir nähern uns einem Camion. Was er geladen hat? Schweine. Es sind Schweine, Kostbarkeiten, sehe ich. Der einzige Schweinetransport, der in dieser Gegend, deren Boden den Schafen und deren Himmel den Wolken gehört, sagte er immer, unterwegs ist.
    Ein Vermögen fährt vor uns her. »Schau hin!«, sage ich noch. Doch Fritz reagiert kaum. Er ist wohl am Einschlafen. Wir fahren nun direkt hinter dem Lastwagen her und können die Tiere schon riechen. In diesem Augenblick löst sich das Gatter. Ein einziges dieser schlachtreifen Exemplare verliert das Gleichgewicht und fällt von der obersten Etage durch unsere Windschutzscheibe, direkt auf die Stelle, wo Fritz eingeschlafen ist, und trifft den alt gewordenen Mann im nächsten Augenblick. Armer Auswanderer!
    Und so hatte es dann auch im Brief gestanden, den mir die Doctora schrieb, auf Russisch, jener Sprache, die sie liebte, und nicht auf Deutsch, jener Sprache, vor der sie Respekt hatte. Ich fände schon jemanden, der mir das alles übersetzte. Der letzte Satz hieß: »Swinje moja eschatlogice salvirne y mazakrirnje y dwa mojim, Fritz me kaputki.« Das hieß auf Deutsch:
    »Das Schwein kann noch gerettet und notgeschlachtet werden. Er aber ist tot.«
     
Interrail
     
    Wie schreibt man: Liebe? Was ist »lieben«? Ist es ein Tu-Wort?
    Es musste eine natürliche Begabung sein, ein Trieb der Natur, denn niemand hatte uns gesagt oder gar gezeigt, wie man sich liebt. Wir wussten alles schon, so wie eine gerade aus dem Ei geschlüpfte Seeschildkröte, die ins Meer davonschwimmt und erst wieder zurückkommt zum Eierlegen. Und so wie ein Neugeborenes, das von selbst anfängt zu schreien, als ob es das immer schon gekonnt hätte.
    Wir nahmen uns in den Arm, in den Mund. Im Anfang war unsere herrliche Oberfläche, unsere Haare und Härchen. Und wir, in dieser Landschaft, waren wir Menschen? Und ich, war ich ein Mensch? Meine Erscheinung, meine Haare, mein Schweiß, mein Bauch an ihrem Bauch, mein Atem, mein Wehleid, meine Lust, mein Bauch an ihrem Bauch, ihr mein Körper auf Zeit, meine gnädige Frau - nahm Besitz von Ihnen, auf Zeit, leasing. Doch sooft wir uns schon wiederholt hatten und im Leben vorangeschritten waren, die alte Besinnungslosigkeit stellte sich ein. Auf einmal war sie: da: da: da. Und nun? Aug um Aug, Mund um Mund, Geschlecht um Geschlecht. Wir nahmen uns gegenseitig in die Augen, in den Mund nahmen wir uns,

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