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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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kam auch noch die Einladung zu unserem ersten Klassentreffen: Zum ersten Mal sollten wir uns nach Jahren wiedersehen.
    Und außerdem: Über einen Telefonanruf erfuhr ich vom Tod unserer Lateinlehrerin: Sie hatte sich mit fünfundsiebzig Jahren in ihrem Fertighäuschen, das sie sich für ihren Lebensabend hatte hinstellen lassen - nur der Keller Massivbauweise, und da geschah es -, erhängt. Diesen Tod musst du dir jetzt immer dazudenken, sagten wir uns am Telefon, wenn du an die Lateinstunden denkst, an »velle«, »nolle«, »malle«: »wollen«, »nicht wollen«, »lieber wollen«, an die unregelmäßigen Verben, die Verwandlung von Colonia Agrippina zu Köln. Und selbst Catull klingt jetzt anders: »vivamus atque amemus, mea Lesbia - oder nicht?«, fragte ich meinen Informanten Rolando, der die ganzen Jahre in dieser Schule auf dem Schlossberg neben mir gesessen hatte oder ich neben ihm.
    Du musst jetzt alles vom Ende her sehen, ihre Schwärmereien von einer ersten Reise nach Rom, zu den Ruinen, die Klagen über die Kinder, die wir waren, und wie sie schon in der Sexta über uns stöhnte: Ich weiß nicht, wie ich euch ins Abitur führen soll! Du musst jetzt alles anders sehen, ihren Unwillen der Welt gegenüber, die vor dem Leben stand, die schlechten Zensuren, die diese Welt bekam, die Geilheit Catulls, die Kälte, sie fror immerzu und zog, während wir unser Wissen auswendig aufsagen sollten, eine Unterhose nach der anderen über. Das war hinter dem Tisch im Bio-Raum, denn an unserer Schule ging es drunter und drüber. Der Lateinunterricht fand zwischen einem einsamen Skelett und den Präparaten aus dem Humangenetischen Institut Freiburg statt, die noch vom Dritten Reich her hier herumlagen, vergessen worden waren. Der Lehrstuhlinhaber für Rassenhygiene, ein sogenannter Mediziner und damals einer der angesehensten seines Fachs, war doch auch von hier, doch auch einer von uns. Das alles musst du dir jetzt immer dazudenken, sagte ich, die Unterhosen und alles, alles vom Ende her sehen, ließ ich ihn noch einmal wissen. Wir waren noch einmal ganz klein vor dem Leben, als wir vom Ende dieser ferngerückten Gestalt sprachen, unserer guten alten Lateinlehrerin, die sich im Keller ihres Fertighäuschens erhängt hat, wahrscheinlich aus Einsamkeit.
    Sie hatte alles dafür vorbereitet, vielleicht auch noch den Termin, denn die Beerdigung fiel mit unserem ersten Klassentreffen zusammen. Sie hatte noch die Einladung zu unserer Feier erhalten.
    Vor Jahren, Lichtjahren, hatte uns Fräulein S. ins Abitur geführt.
    Da standen wir tatsächlich in einem leeren Raum. Einer von den Lehrern von einst, die immer noch hier waren, hatte uns hierhergeführt. Wir sollten die Plätze von einst herausfinden, uns an unseren alten Platz setzen: eine, noch eine Lektion unserer Vergänglichkeit, der Vergänglichkeit von Meßkirch und all seinem Gepränge.
    Es hatte geheißen, wir sollten Bilder mitbringen, Fotos zum Wiedererkennen, wie ich vermute. Doch keiner hatte Fotos gebracht; und nicht einmal schöne Erinnerungen. Nun standen wir, hilflos, in einem Raum, mit dem wir nichts mehr verbanden. Waren wir je hier gewesen? Und das all die Jahre, in denen wir Hoffnung hatten, in denen die Welt wuchs, da wir zum Fenster hinausschauten? Wir bekamen nun nur gesagt: »Da war es!«, und sagten uns: »Da muss es gewesen sein.« Die Stühle waren wohl noch dieselben und auch wir. Unsere Hinterteile passten, so gut wie die Vorderteile, sie alle fielen in dieser Position nicht nach unten. Und kaum saßen wir, wurden wir auch schon wieder aus diesem Raum, dieser allmählich aufsteigenden Erinnerung hinauskomplimentiert. Schließlich hatten wir noch ein ganzes Programm vor uns, ein Programm des Wiedersehens; und da dies so schnell nicht möglich war, wurden wir auch schon wieder hinauskomplimentiert, kaum dass wir in unserer Erinnerung Platz genommen hatten, ohne dass wir über sie hinausgewachsen wären, über sie oder diesen Raum, an dem unsere Erinnerung versagte, ohnmächtig wurde, so unvermittelt und ohne Erbarmen herbeizitiert - und sitzen gelassen und noch einmal und für immer hinausgeschmissen. Wir sahen und sahen nicht. Wir saßen und saßen nicht. Wir waren es und waren es nicht. Wir waren es doch? Unser gemeinsames Verschwinden (auf Taubenfüßen) und dieser Versuch eines Wiedersehens: Als Anhaltspunkt allein ein Stuhl und der Blick aus dem Fenster, der an (meine) Jahre in der Gefangenschaft erinnerte, mehr nicht. »Hier soll es gewesen

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