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Einmal auf der Welt. Und dann so

Einmal auf der Welt. Und dann so

Titel: Einmal auf der Welt. Und dann so Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnold Stadler
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einander zurufen, als ob es sich um eine Ostereiersuche, »Hier liegt er!«, als ob es sich um einen Schatz handelte! Die Missverständnisse setzten sich fort, auch weil einige von uns die Sprache gewechselt hatten. Ich hatte gleich zu Beginn des Treffens an Diethelm bemerkt, dass er nun hochdeutsch sprach. Und wie! Er hatte sich vor mir aufgestellt und seinen Namen gesagt (durch einen Doktortitel vermeintlich aufpoliert), als ob ich ihn nicht erkannt hätte. Aber er war es ja, der mich nicht erkannte, das behauptete er wenigstens. »Und wer sind Sie?«, wollte er von mir wissen. Er habe mich nämlich ganz zu Beginn für den Löwenwirt gehalten, scherzte er später. Der Ort, wo wir uns trafen, war nämlich der Löwe, wie damals. Diethelm war ja auch der Erste, der im Blick auf mich an diesem Tag von Schönheitsoperation sprach.
    Es war ein hoher protestantischer Geistlicher geworden aus ihm, Stadtpfarrer einer deutschen Großstadt, ließ ich mir sagen. Erst gratulierte ich ihm überschwänglich zu seinem hohen Amt, später ließ ich durchblicken, dass es wohl - nach meinem Dafürhalten - heutzutage mehr protestantische Geistliche als einfache protestantische Gläubige gebe, und überhaupt: Ich war bei einem Lieblingsthema angekommen: dass der Protestantismus heute doch nur eine Sekte und immer schon eine Sekte gewesen sei. Im zwanzigsten Jahrhundert müsse man über dieses Thema nicht mehr ernsthaft reden, erklärte ich. So redete ich immer noch, als wäre ich niemals in Rom gewesen.
    Das Grab war immer noch nicht gefunden. Wir wollten es ja gar nicht so schnell gefunden haben, denn das wäre nur das Ende des Spiels gewesen, und so vermute ich, dass Marlies und Lucy, diese zwei forschen Mädchen von einst, längst wussten, wo es war. Die eine war ja hiergeblieben und hatte auch die Schlüssel vom Hausmeister für die Turnhalle bekommen. Dort sollten wir auch noch hin.
    Marlies wusste genau, wo es war. Sie hatte ja erst mit der Gießkanne hantiert und wollte im Vorbei noch mit etwas Wasser auf Heideggers Grab, rekonstruiere ich ex post, sie wusste ja, dass es sonst niemand machte. Sie war mit der Gießkanne vorangeschritten und wollte uns ursprünglich Heideggers Grab zeigen, schließlich kannten wir ihn alle von seinen Auftritten in der Stadt- und Viehhalle, wohin wir gekarrt worden waren wie zur selben Zeit die Ostberliner Schüler an die Stalinallee, wenn hoher Besuch aus dem Osten kam. Und ich müsste lügen, sagte ich heute, dass ich nicht ergriffen war, als er mit »Meine lieben Landsleute« anhob.
    Dann aber, als Menschenkennerin, hat sie umgestellt. Als sie merkte, dass wir das richtige Grab nicht fanden, dass wir am Durchdrehen waren, hat sie umgestellt und den Spaß mitgemacht. Sie wusste alles, so wie die Großmutter, die die Ostereier versteckt hat und schließlich einen Wink gibt, wo die Kinder suchen müssen. Heiß! Kalt! Warm! Kartoffel! - so und ähnlich lauteten ihre kleinen Hilfen, die Sprache unserer Suchspiele von einst nachahmend, die sie noch beherrschte oder, wenn nicht, von ihren eigenen Kindern noch einmal gelernt hatte. Doch wir irrten weiterhin, immer noch, auf diesem fremden Friedhof umher und fanden das richtige Grab einfach nicht. Wie eine allwissende, besorgte Großmutter blickte sie, doch es half nichts.
    Schaut mal in der Urnenhalle! Das war der entscheidende Hinweis, und es war alles vorbei. Schlagartig fiel uns ein, was den Schrecken von damals vollkommen gemacht hatte: Er hatte sich ja verbrennen lassen. Es war die erste Leichenverbrennung unseres Lebens. Wir verstummten. Das Spiel war zu Ende.
     
    Es folgte die Mittagspause. Danach sahen wir uns wieder im Löwen. Nach dem offiziellen Teil sollte nun der vergnügliche folgen. Einige hatten schon vergessen, woran E. gestorben war, andere haben es nie gewusst. Wenn wir uns recht besannen, wusste keiner von uns jemals, woran E. eigentlich gestorben war. Es war zuletzt ein Selbstmord, aber schon damals hieß es: Die Schule hat ihn umgebracht. Er war der Einzige, der sich damals - vielleicht - das Leben genommen hat, vielleicht war es die Schule.
    Wir anderen haben dies alles überstanden, weshalb wir nun vergnüglich sein sollten, worüber hinweg wir nun lachen sollten, immerhin ging es um eine Ewigkeit und drei Tage, die hinter uns lagen und mehr, und keiner hatte sich seither umgebracht oder wäre auch nur gestorben, alle kamen lebend und lebten, wie auch immer, wir waren die Alten, wir hatten Glück, es hatte uns nicht erwischt,

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