Einmal auf der Welt. Und dann so
sein?«, fragte Lucy aus sicherem Abstand.
Sie hatte es am weitesten gebracht, am weitesten weg von hier, sie konnte aus sicherem Abstand fragen. Wir alle, die wir es zu nicht so weit von hier weg gebracht haben, hatten gehofft, dass Lucy mit ihrem Fernsehteam kommen und uns aufnehmen würde, für ihre Sendung im ZDF. Sie machte jetzt ernstzunehmende Filme fürs Fernsehen, aber auch Werbespots - und außerdem leitete sie nebenbei das Maggi-Kochstudio. Wir hatten gehofft, dass sie aus uns und unserem Wiedersehen einen kleinen Beitrag für die Aspekte zaubern würde, umsonst - Sie war ohne gekommen.
Vielleicht fürchtete auch sie sich vor der Erinnerung, aber die Erinnerung hatte an diesem Tag keine Chance.
Von hier aus ging es zum Friedhof. Einer von uns war gestorben, während wir noch wuchsen, sozusagen aus dem Lateinunterricht, aus velle, nolle, malle heraus.
Nun mussten wir nur noch das richtige Grab finden.
Die Frauen (denn aus meinen fernen Mädchen waren Frauen geworden, so nah wie die Spatzen) trugen alle leichte Sommerkleider, fast durchsichtig scheinende Sommerkleider, ich fürchte, sie waren für das Wiedersehen gekauft, es war kalt, sie waren geschminkt und zitterten wahrscheinlich. Einige von uns, die Männer geworden waren, trugen nun Schnauzer anstelle ihres Gesichts und oben, wo ich das lange, wehende Haar erinnere, das schöne, war fast nichts mehr. Mag sein, dass der eine oder andere ein Toupet oder eine Krawatte trug.
So gingen wir Richtung Friedhof spazieren, niemand erkannte uns, bei aller Neugier in der Stadt. Man hielt uns vielleicht, vielleicht für eine Delegation aus Japan, denn einige von uns hatten schon damals etwas Chinesisches. Ich wusste schon aus der Volksschule, dass Attila bei uns durchgezogen war, und später hörte ich im Biologieunterricht von DNS-Strängen und Mendel'schen Gesetzen, Chromosomen, und dass vor Gott tausend Jahre wie ein Tag sind, vor dem Chromosomengott ohnehin. Man konnte uns für eine Delegation der Heideggergesellschaft halten, für deren japanische Sektion, denn wir schauten sehr ernst und führten ein kleines Nelkengebinde mit uns.
Es gab für die Gräber, auch für die berühmten, keine Wegweiser. Ich hatte schon gehört, dass das berühmte Philosophengrab ganz vermoost war, ein Gerücht in der Stadt, das Grab des Philosophen sei ganz ungepflegt, ja verwahrlost. Dies nur nebenbei.
Wir fanden das Grab unseres Schulkameraden nicht, wir irrten auf diesem Friedhof umher.
Es war schließlich wie ein Spiel, anfangs ungeheuer und entblößend, dann aber brach der Spieltrieb durch. Wir wurden nun wieder eine Zeit lang wie die Kinder, und wer als Erster unser Grab fand, hatte gewonnen. Das war alles. Marlies K. aus Buffenhofen rief quer über die Reihen hinweg: »Da liegt er!« in der Muttersprache (»Do leitr!«).
Aber sie tat das, um zu scherzen, denn sie hatte nur ihren Onkel gemeint, Heidegger. Wir rannten alle hin und mussten furchtbar lachen, denn wir standen vor dem falschen Grab, es war nur das Grab des Philosophen, mit dem Marlies am nächsten von uns allen verwandt war: Die Mutter Heideggers, eine geborene K. wie sie, war die Schwester ihres Großvaters.
Marlies und die Heideggermutter waren unter demselben Dach gezeugt und geboren worden und auch aufgewachsen, bis sie als Frauen aus dem Haus getrieben wurden (Verheiratung). -Die Grabstelle war wirklich etwas heruntergekommen. Es gibt immer einen wahren Kern, dachte ich mir, zum Grab des Philosophen hinschielend und auch darüber hinweg, denn wir waren immer noch auf der Suche nach dem richtigen Grab.
E. war gewiss schon längst in nichts aufgegangen, das Ganze (sein Leben, sein langsames Sterben, plötzlicher, schlagartiger Tod) war doch schon eine Ewigkeit und drei Tage her! Aber vielleicht war es unsere Aufregung, unser Schmerz von damals, dass wir auf einmal fast durchdrehten und ganz kindisch wurden. Der Tod von E. verband uns: Er war vielleicht das einzige Ereignis in unserem Leben, das wir ähnlich bewahrt hatten, das unsere Erinnerung teilte. An diesem Tag des Suchens (der alte Platz, der richtige Stuhl, das richtige Grab) gab es immer wieder Falschmeldungen, mutwillige, aber auch aus Irrtum und vorschneller Gewissheit.
Es waren nicht alle gleich aufgedreht, immer noch gab es Unterschiede zwischen uns. Das blieb, dass wir uns unähnlich waren und blieben, und dass wir uns nicht verstanden. Darin waren wir uns ähnlich, dass wir uns unähnlich waren.
»Hier ist es!«, hörten wir uns
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