Einmal Paradies und zurück
Lexie nennen?
Kapitel 6
Kate
»Es tut mir so leid wegen deiner Schwester.«
»Danke.«
»Wir waren alle total schockiert.«
»Ich weiß.«
»Wie kommt deine Mutter damit zurecht?«
»Nicht so gut.«
Meine nächste Station ist Kate. Fragt mich bloß nicht, wie ich das hingekriegt habe. Es ist, als hätten Zeit und Raum in der Dimension, in der ich mich jetzt befinde, keinerlei Bedeutung. Total verrückt, ich weiß, und wenn ich Nuklearphysiker wäre, hätte ich vielleicht eine Chance, es zu erklären, aber ich bin nun mal keiner. Ich weiß nur, dass ich, wenn ich mich intensiv auf jemanden konzentriere, in der nächsten Minute bei ihm bin. Allmählich fühle ich mich wie
Alice im Verwunderland
. Dieses Gebeame wäre auch echt praktisch gewesen, als ich noch gelebt habe. Zum Beispiel, wenn Anna in der Agentur einen Riesenkater und entsprechend gruslige Laune hatte. Oder auch jedes Mal, wenn Mum mal wieder an mir rumgenörgelt hat, ich soll mir endlich einen weniger bekloppten Freund suchen. Oder wenn ich nachts stundenlang alleine im Bett lag und mich gefragt habe, wo besagter Freund sich rumtreibt. Mir fallen unzählige Verwendungszwecke ein.
Leider ist Kate nicht allein. Mist. Ich wollte doch unbedingt rausfinden, ob sie mich hört oder nicht. Aber jetzt habe ich Angst, sie zu erschrecken oder in Verlegenheit zu bringen. Wie gesagt – bei James war das amüsant, aber glaubt mir, Kate ist nicht der Typ, den man einfach so verarscht.
»So ein hübsches Mädchen«, sagt Chidi, die attraktive Masseurin aus Zimbabwe, mit der Kate im Fitnesscenter zusammenarbeitet. »Und so humorvoll … immer zu Späßen aufgelegt.«
Wenn ich mitbekomme, wie Leute sich über mich unterhalten, kriege ich sofort einen Kloß im Hals. Wenn es nette Dinge sind, ist es sogar noch schlimmer. Nicht dass ich erwartet hätte, dass jemand sagt: »Ach, zum Glück ist diese Charlotte endlich unter der Erde. Gott, das war ja eine blöde Kuh, ich bin so froh, dass sie endlich gekriegt hat, was sie verdient.« Aber etwas Derartiges hätte mir weniger auf meine Tränendrüsen gedrückt.
»Ich weiß«, antwortet Kate kurz. Barsch. Als wollte sie am Telefon einen Versicherungsverkäufer abwimmeln.
»Es bricht einem das Herz.«
»Mmmm.«
»Muss ziemlich hart für dich sein.«
»Ja.«
Einsilbige Antworten, Kate? Mehr nicht? Komm schon, Chidi will doch nur nett sein.
Verlegene Stille tritt ein, während Kate sich einen großen Frotteebademantel überzieht und sich alle Mühe gibt, Chidi keine nackte Haut sehen zu lassen. Aber Moment mal – normalerweise arbeitet Kate doch am Empfang, und Chidi ist Masseurin. Aber als ich mich umschaue und merke, dass wir im Umkleidebereich von The Sanctuary sind – dem Spa, das zum Fitnesscenter gehört –, begreife ich allmählich, was los ist. Kate kriegt irgendeine Behandlung, die Glückliche. Dazu muss ich erklären, dass meine Schwester immer viel Zeit hat. Ich meine, sie hat genug Zeit, um sich die Preisunterschiede der Biokartoffeln bei Tesco, Lidl und Aldi bis auf den Cent genau einzuprägen. Während der Tag für mich beispielsweise nie lang genug ist und ich immer meinem Schwanz nachjagen muss wie ein irrer kleiner Hund. Entschuldigung, ich müsste eigentlich die Vergangenheitsform benutzen. Das vergesse ich ständig.
»Aber du weißt ja, dass wir alle für dich da sind. Und wenn ich irgendwas tun kann …«
»Ja, gut, das ist nett. Danke.«
Nicht mal Kates Unterlippe bebt. Nichts regt sich. Andererseits weiß ich, dass Kate oft in Situationen wütend reagiert, in denen andere Leute traurig wären. Als Dad gestorben ist, war sie zwei Jahre lang stinkwütend auf alles und jeden, und man behauptet ja, dass Trauer etwa diese Zeitspanne braucht, um auf ein erträgliches Level abzuheilen. Ich habe es damals mit Trauerberatung versucht – die absolute Geldverschwendung, nebenbei bemerkt. Die einzigen Perlen der Weisheit, die ich mir dort angeeignet habe, waren die fünf Trauerstadien: Erst ist man wie taub, dann leugnet man, dann wird man wütend – alles drei sozusagen die Generalprobe für die Depression, die darauf folgt, um irgendwann endlich der Akzeptanz Platz zu machen. Zumindest lautet so die Theorie.
Sechs überteuerte Sitzungen habe ich gemacht, um das zu erfahren, und der dumpfe, nagende Schmerz veränderte sich nicht im Geringsten. Ich saß nur da und dachte darüber nach, dass ich mir für das Geld eine hübsche Fendi-Handtasche hätte kaufen können. Mit dem Kummer musste
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