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Einmal scheint die Sonne wieder

Einmal scheint die Sonne wieder

Titel: Einmal scheint die Sonne wieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Betty McDonald
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Besuchsstunden. Sie meinten es sicher gut, aber ihr Versuch, einem während der Besuchsstunden Gott nahezubringen, war genau so vergeblich, als versuchten sie, auf einer Cocktail Party zu beten.
    Am Montag kam ich zur Durchleuchtung. Patienten mit sechs und acht Stunden Aufstehzeit gingen zu Fuß, aber ich wurde von Henry, dem Röntgenmann, im Rollstuhl gefahren. Er nutzte den freien Tag der Oberschwester aus und fuhr mich nicht durch die dunklen Tunnels, sondern über das Gelände, so daß ich die frisch umgegrabenen Staudenbeete mit ihren Häufchen spitzer grüner Schäfte, den dicken roten Schößlingen und graugrünen Blättern angucken konnte und den vollerblühten wilden Kirschbaum neben der Kinder-Station. Willy, der andere Röntgenmann, fuhr mich auf dem gleichen Weg zurück, und ich füllte meine gesunde Lunge mit dem berauschenden Duft von Erde, frischen Blättern und Dünger.
    Am Dienstag nach den Ruhestunden lauschte ich friedlich dem einschläfernden Geräusch der Mähmaschine des Gärtners vor meinem Fenster und sah zu, wie der weiße Blütenschaum im Kirschgarten sich langsam im sanften Wind kräuselte, als die Oberschwester hereinkam; sie hatte einen kleinen Kasten mit Karteikarten bei sich, auf denen die vorhandenen Bücher verzeichnet waren. Der Fichtenhain hatte eine kleine Bücherei, und durch die Bibliothekarin (eine Patientin, die großes Vertrauen besaß) konnten wir Bücher aus der Stadtbücherei bestellen. In der Bettlägerigen-Station nahm die Bibliothekarin in einer Woche die Buchbestellungen entgegen, rollte in der nächsten Woche einen Karren mit Büchern herein und erzählte einem, daß das Bestellte nicht dabei wäre. In der Ambulanten-Station besaß offenbar nur die Oberschwester genug Vertrauen für diese verantwortliche Aufgabe, denn sie hielt Sigrid und mir ihren kleinen Karteikasten unter die Nase und erzählte uns, daß wir uns ein Gebiet aussuchen und es durchstudieren müßten! Die Kartei umfaßte Gebiete wie Philosophie, Psychologie, Geschichte, Musik, Kunst, Architektur usw., aber ich suchte mir Wirtschaftswissenschaft aus, nicht weil ich auch nur das leiseste Interesse an ihr hatte, sondern weil es sich am knifflichsten anhörte, und ich wußte, daß die Oberschwester das nicht von mir erwartet hatte. Das Buch, das sie mir für den Anfang empfahl, hieß: „ Wirtschaftswissenschaft für Jedermann .“ Nach den Ruhestunden kam die Bibliothekarin atemlos herein und sagte mir, daß sie alle meine Bücher aus der Stadtbibhothek kommen lassen müßte. Ich sagte ihr, daß ich hoffte, das würde monatelang dauern, und schaute weiter müßig in den Kirschgarten hinaus.
    Als ich einen Monat in der Ambulanten-Station war, wurden Sigrid und ich zur Untersuchung geholt. Wir waren sehr aufgeregt, weil diese Untersuchungen sehr wichtig waren und bedeuten konnten, daß wir sechs Stunden aufstehen, unsere Kleider tragen, in der Beschäftigungstherapie-Werkstatt arbeiten, in der Bettlägerigen-Station die Blumen besorgen und andere unterhaltsame Betätigungen ausüben durften; aber mit der Benachrichtigung über das Ergebnis waren wir von den Schrullen der Oberschwester abhängig.
    Nach den Ruhestunden erhielt Sigrid den Bescheid, daß sie sechs Stunden auf sein dürfe. Mir sagte die Oberschwester nichts, so daß ich sie nach meiner Aufstehzeit fragte, wodurch sie aus irgendeinem Grunde bleich wurde vor Wut und ich mir eine lange, wohldosierte Lektion darüber zuzog, daß „Patienten die Last der Kur nicht auf ihre eigenen Schultern zu nehmen haben.“ Da ich bisher aus allen Lektionen gelernt hatte, daß ich die Last der Kur auf meine eigenen Schultern nehmen oder mich nach Hause schicken lassen müßte, war ich verdutzt.
    Die Oberschwester polterte davon, und ich zog mir einen Liegestuhl auf den Wandelgang, damit ich zusehen konnte, wie die Kinder auf ihrem Spaziergang durch den Obstgarten kamen. Es waren ungefähr fünfundzwanzig, zwischen zwei und fünfzehn Jahren, und außer den beiden ältesten Mädchen trugen alle nur sehr kurze Höschen, Schuhe, Socken und Hüte. Alle waren sie braun und rundlich wie Haselnüsse. Die Schwester ging voraus, und sie zuckelten hinterher, wobei die größten die kleinsten an der Hand hielten und die Nachzügler heranholten. Ein dickes, kleines Mädchen schlug nach dem Jungen neben sich, sprang dann davon und brach die Spitze eines Kirschblütenzweiges ab, bevor die Schwester es hindern konnte.
    Sigrid rief mir zu, daß der 11. Mai Besuchstag sei und

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