Einmal scheint die Sonne wieder
meine Kinder vormittags um 11 Uhr kommen und bis 4 Uhr nachmittags bleiben dürften.
Zwei Tage später wurde mir gesagt, daß ich acht Stunden auf sein und die jetzige Zeit jeden Tag um eine halbe Stunde ausdehnen dürfte, anstatt der üblichen fünfzehn Minuten. Am kommenden Dienstag konnte ich also sechs Stunden auf sein und meine Kleider tragen; kommenden Sonnabend in einer Woche acht Stunden, und am 3. Juni konnte mir ein Stadturlaub bewilligt werden. Acht Stunden zu Hause mit der geliebten Familie und gutem Kaffee!
Als ich ihnen von meinen acht Stunden und dem bevorstehenden Besuch zu Hause erzählte, schienen sie verlegen. Ich konnte mir ausmalen, wie sie bekümmert Konferenzen darüber abhielten, was mit einer großen, fetten Angehörigen anzufangen sei, die bald entlassen werden konnte und für alles andere als essen zu zart war.
Mutter brachte mir neue Unterwäsche – alles große Nummern – und Katharine Mansfields Tagebuch.
Als ich von Katharine Mansfields tragischem, einsamem Kampf gegen die Tuberkulose las, erschien mir der Fichtenhain so sehr als Paradies, daß ich sogar der Oberschwester einen kleinen goldenen Heiligenschein um den Kopf hätte legen können, als sie mich warnte, daß von jetzt ab alles, was ich tat, einschließlich des Atmens, Anlaß geben könnte, mir den Stadturlaub zu streichen.
Am kommenden Montag um 10 Uhr 30 ging Sigrid nach Hause. Äußerlich war sie kühl, ruhig und nordisch, aber innerlich doch wohl aufgeregt, denn ihre Hände zitterten so, daß ich ihr die Bluse zuknöpfen mußte.
Kaum war sie fort, erschien schon ein ganzes Korps von Schwestern mit Schrubbern, Bürsten und Eimern voll Desinfektionsmitteln, um jede Spur von ihr zu verwischen. Ihr Bettzeug und alle ihre Sachen wurden in große Pappkartons mit der Aufschrift Desinfektion getan und fortgerollt. Alles, was sie berührt oder benutzt hatte, wurde gescheuert. Der leise Duft von Veilchen, den sie zurückgelassen hatte, wurde durch Lysolgeruch ersetzt, das verstreute Veilchenpuder mit einem in Waschmittel getauchten Lappen weggewischt. Ihr Name wurde auf die Liste der Ausgänge gesetzt, und ich schnupperte und sah auf das leere Bett, den ausgeräumten Schrank, die frisch ausgelegten Kommodenschubfächer und fragte mich, ob sie eigentlich jemals hier gewesen sei.
Eileens Zimmergenossin, die Nachtklubsängerin Delores, erschien in der Ambulanten-Station, und ich war ziemlich überzeugt, daß die Oberschwester nun viel zu beschäftigt sein würde, sich noch weiter um mich zu kümmern. Delores hatte einen großen Mund, vollendet schöne, strahlend weiße Zähne und kecke blaue Augen. Jede ihrer Bewegungen war berechnet, und durch die Gewichtszunahme hatte sie sehr anziehende Formen bekommen, die sie vorteilhaft zur Geltung brachte, indem sie ihren billigen purpurroten Kimono fest um sich zog. Ihr erster Auftritt im Speisesaal war dramatisch.
Leicht zur Seite geneigt, so daß alles, was unter dem fest angezogenen Kimono lag, ausgezeichnet zur Geltung kam, drapierte sich Delores in der Tür und überblickte langsam und sorgfältig den Speisesaal und die Speisenden. Als dann ziemlich sicher damit zu rechnen war, daß alle Augen in dem Raum sich auf sie hefteten, legte sie alle ihre Reize in ein offenes, breites, betörendes Lächeln und schlängelte sich langsam auf einen Platz am vordersten Tisch. Einer der Männer war von diesem Schauspiel so hingerissen, daß er anfing zu klatschen und dafür mit einem 240-Volt-Blick aus Delores’ blauen Augen und von der Oberschwester mit einem warnenden Kopfschütteln bei erhobenem, mit Schmorfleisch gefülltem Schöpflöffel belohnt wurde. Kimi sagte: „Heut tut mir die Oberschwester zum erstenmal leid. Ihre schlimmsten Befürchtungen haben sich erfüllt. Eros ist in ihre Ambulanten-Station eingedrungen, und sie hat keine anderen Waffen für den Kampf als den Entzug kleiner Vorrechte, die an Delores gemessen nicht mehr als Vorrechte erscheinen.“
Pixie erzählte, daß sie in der Bettlägerigen-Station einen Monat lang in dem Raum neben Delores gelegen hätte. Die wäre ganz ohne Absicht zu einer wahren Qual für die Oberschwester geworden, wenn sie so laut von ihren Leiden erzählt hätte, daß die ganze Station es hören konnte, und wenn sie jeden vorbeikommenden Doktor herangewinkt und mit ihrer heiseren, durchdringenden Stimme gesagt hätte: „Hier tut’s mir ’nen bißchen weh, Dokta. Nein, ein bißchen weiter unten, wenn es Sie nicht geniert, Dokta. Nein, noch ein
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