Einmal scheint die Sonne wieder
bißchen weiter unten, Dokta. Nein, sehr weh tut’s nicht, Dokta, aber wenn ich wüßte, sie würden dann öfter kommen, könnt ich’s so einrichten, daß es weher tut.“ Pixie erzählte, daß die Ärzte sichtlich ihren Spaß an Delores gehabt hätten, aber die Oberschwester sei bei diesen kleinen Tête-à-têtes zu Eis geworden.
Da die strenge Schottin wieder in die Bettlägerigen-Station zurückgekommen war, beschlossen Kimi, Pixie und ich einmütig, Delores als vierte ein unseren Tisch zu bitten, und auf dem Weg aus dem Speisesaal blieb ich stehen, um sie in der Ambulanten-Station zu begrüßen und ihr unsere Einladung zu überbringen. Sie antwortete mir mit einem guten, kräftigen Händedruck und sagte durch ihre herrlichen Zähne: „Jesus, Mädel, ich freu mich, daß ich Sie kennenlerne. Seit ich hier bin, hab ich von Ihnen gehört.“ Ich antwortete: „Jesus, Mädel, und ich freu mich auch, daß ich Sie kennenlerne. Sie können sich ja nicht vorstellen, wie nett das jetzt für mich mit Ihnen hier werden wird.“
Als ich auf acht Stunden gekommen war, wurde ich nach oben verlegt, in ein Zimmer neben Kimi und Sheila, die zusammen wohnten. Meine neue Zimmergefährtin war einundzwanzig Jahre alt, las mir Witzblätter vor, nannte mich Kerlchen und redete von nichts anderem als „davon“. Sie war sehr groß, hatte rötliches Haar und hätte verheiratet sein müssen.
Da der Speisesaal überfüllt war, wurde Delores sofort an unseren Tisch gesetzt, der am Ende des Raumes, am weitesten entfernt von der Oberschwester und in der ersten Tischreihe nach dem Niemandsland und der Männerabteilung stand. Sie saß mit dem Rücken zu den Männern, oder sollte es jedenfalls. Tatsächlich saß sie auf ihrem Stuhl mit einer leichten seitlichen Wendung und übereinander geschlagenen Beinen, wie eine von den intimen Sängerinnen, bevor sie loslegen: „Nun hört mal alle her, weil ich von meinem Kerl erzähle.“ An dem Tisch genau hinter Delores saßen vier nett aussehende junge Männer, die sich allmählich angewöhnten, als erste in den Speisesaal zu kommen und als letzte zu gehen. Die Oberschwester bekam ein ganz verstörtes Gesicht und fing an, Tag und Nacht die Wandelgänge hinauf- und hinunterzuklappern und in die Zimmer zu luchsen.
SECHZEHNTES KAPITEL
Ein Zehenschoner und sein Geschlecht
Zehenschoner ist der Sammelname für nutzlose Geschenke. Ein gehäkelter Serviettenring ist ein Zehenschoner. Gestickte Lesezeichen sind es, Statuetten von schiefäugigen Schäferinnen, Nadelkissenbezüge in Knotenstickerei, ein Seidenschächtelchen für Druckknöpfe (in das taktvollerweise eine Karte mit Druckknöpfen gelegt ist, damit man sich auch nicht irrt und es für ein Seidenkästchen für Haken und Ösen oder Stickgarnreste hält), gestickte Mantelbügelüberzüge, handgemalte Schuhklötze (immer mit einer besonderen Farbe bemalt, die niemals trocknet), selbstgefertigte, dreibeinige Fußschemel, bei denen der Abstand zwischen den Beinen so ungleich ist, daß der Schemel immer auf der Seite liegt, Kreuzstichbilder von primitiven braunen Häusern mit gestickter Unterschrift „Altes Haus am Straßenrand“, handgemalte Seifenschachteln aus Zelluloid für die Reise, deren Deckel, wenn man sie einmal abgenommen hat, nie wieder auf den Unterteil passen, gehäkelte Bezüge mit Quasten für die Griffe von Papiermessern, Blütenvasen aus Ketchupflaschen, reich verzierte und scheinbar mit Eisenspänen gestopfte Taftkissen, ungeschickt zurechtgeschusterte Puppen, deren weite Röcke Telephone bedecken sollen.
Ein Zehenschoner ist keine Sache, die sich dem Kreislauf der Wirtschaft anpaßt. Während der Krise, als jeder seine Weihnachtsgeschenke selbst herstellte, gab es Zehenschoner im Überfluß. In guten Zeiten werden sie nicht zu Hause angefertigt, sondern im hinteren Raum eines Andenken-Ladens gekauft, dessen Haupteinnahmequelle vorn in der Leihbücherei liegt.
Am 3. Mai machte ich meinen ersten Ausflug in die Beschäftigungstherapie-Werkstatt der Frauen und sah, daß ich hier an einem sprudelnden Quell von Zehenschonern stand, über den die begeistertste Vertreterin und Herstellerin von Zehenschonern in unserem Jahrhundert, Miß Gillespie, wachte.
Miß Gillespie entsprach körperlich und geistig genau der Vorstellung, die man sich von einem Hersteller handgemalter Papierteller macht. Ihr Mund war so voll falscher Zähne, daß es aussah, als hätte sie sich zwei Gebisse eingesetzt. Sie hatte dickes, offensichtlich
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