Einmal scheint die Sonne wieder
Ich lasse ihn sofort Zeitung lesen!‘“
Marie sagte: „Wie sind Sie nur in siebzehn Jahren so gescheit geworden?“ Kami erzählte ihr: „Morgen werde ich achtzehn, und außerdem hatte ich nie sehr viel Freunde. Da hab ich viel Zeit zum Beobachten und Nachdenken gehabt.“ Da Kimi sehr schön war, wollte ich gern wissen, warum sie keine Freunde gehabt hätte. Sie sagte: „Die Japaner sind eine kleine Rasse. Ich bin groß. Ich bin viel ausgegangen, aber dann habe ich meist den ganzen Abend allein auf der Couch gesessen. Wie ein Riesenbuddha hab ich immerzu gelächelt und dabei dem Treiben der kleinen Menschen zugesehen.“
Die Nachtschwester kam mit den Medikamenten. Sie war groß, schlank, jung und hübsch. Ihr dunkles Haar glitzerte noch von dem Nebel auf den Veranden, und ihre Wangen waren rosig, weil sie sich beeilte, damit sie mit ihrer Arbeit fertig war, bevor die Tagschicht den Dienst übernahm. Sie stellte die Medikamente auf die Tische, lächelte uns an und ging schon wieder auf die Tür zu. Da hielt Marie sie auf. „Haben Sie mir nicht irgend etwas gegen meine Verstopfung gebracht?“ greinte sie. Die Schwester sagte: „Tut mir leid, aber die Medikamente verordnen die Ärzte.“ Sie drehte das Oberlicht aus und war verschwunden. „Mein Gott, die benehmen sich hier, als ob man gegen Verstopfung so wenig machen kann wie gegen ’nen Muttermal,“ beklagte sich Marie. Sylvia sagte: „Schschscht.“
Gleich mußte das Tagespersonal mit dem Dienst beginnen, darum lehnten wir uns alle in unsere Kassen zurück und schlossen die Augen. Wir hatten ungefähr zehn Minuten völlig still gelegen, als ich meine Augen einen Spalt öffnete und die Oberschwester im Türrahmen sah. Sie ging völlig lautlos und erschien so plötzlich, als wäre sie von einer Maschine im Hauptbüro dorthin geschossen worden. Nach einem flüchtigen Blick über unsere Betten zog sie weiter, um nun in anderen Türen zu erscheinen und vielleicht andere Patienten beim Lachen zu ertappen, beim Reden, Ausgreifen, Singen, Kratzen, Zucken oder irgendeinem von den anderen Dingen, die nicht in die Kategorie des Ausruhens fielen.
Zwanzig Minuten nach sieben stellte der männliche Patient, der schon am Abend vorher gekommen war, unsere Kopfenden fürs Frühstück hoch. Die Betten funktionierten wie Liegestühle, und nachdem er uns beim Hochsetzen geholfen hatte, rückte er die Matratzen so zurecht, daß es für uns bequem war. Am Abend vorher hatte er kein Wort gesprochen, also vermutete ich, daß es gegen seine Vorschriften verstieß, mit uns zu reden. Unglücklicherweise war das nicht der Fall.
Als er mein Bett hinten hochrichtete, stellte er sich vor: „Charlie Johnson. Sie sind hier neu, nicht?“ Ich bestätigte das, worauf er sagte: „Na, ich bin jetzt fünf Jahre hier und hab sie alle kommen und gehen sehen. Manche gehn ja auf ihren Füßen raus, aber die meisten in ’nem Kasten. Wie schlimm ist’s bei Ihnen?“ Ich sagte, ich wüßte das nicht, rechnete aber, nur ein Jahr zu bleiben. „Ha, ha!“ lachte er freudlos. „Das sagen sie alle, wenn sie kommen. „Ha, ha! Die einzige, die nach einem Jahr hier rausgekommen ist, war eine Frau, die Lungenkrebs hatte. Die haben sie nach drei Monaten rausgelassen – mit den Füßen zuerst. Ha, ha!“
Lachbübchens Erscheinung war genau so düster wie seine Gesinnung. Seine fahlen Wangen hatten tiefe kleine Rinnsale, die vom Nasensattel und an seinen abfallenden Mundwinkeln vorbei nach unten liefen, so als wäre sein Gesicht von einem ständigen Tränenstrom aus seinen wässerigen kleinen Augen ausgewaschen. Seine lange, traurige graue Strickjacke, sicherlich von schwachen, zitterigen Händen auf sehr starken Nadeln gestrickt, sah aus, als würde sie durch das Gewicht ihres eigenen Kummers bis zu seinen Knien hinuntergezogen. Sie war so lang, daß er sich beinahe bis zur Erde bücken mußte, wenn er einer ihrer ausgebeutelten Taschen ein Taschentuch entnehmen wollte. Seine knitterigen grauen Hosen flossen über seine Schuhe, und seine Schuhe waren so ausgetreten und formlos, daß sie auf dem Fußboden auseinanderzulaufen schienen.
Charlie bewegte sich langsam und unwillig, als wären die kleinen Arbeiten, die er für die Anstalt leistete, sein Tod, und beide, die Anstalt und er, wüßten das. Zu unserem Pech kam unser Zimmer bei der Essenausteilung zuletzt dran, so daß Charlie keine Eile hatte. Er trödelte endlos herum und wirkte deprimierend wie ein offenes Grab. Schließlich kamen die
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