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Einmal scheint die Sonne wieder

Einmal scheint die Sonne wieder

Titel: Einmal scheint die Sonne wieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Betty McDonald
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die Oberschwester wiederkam und uns einen zweiten Teller anbot, ließ ich mir noch Fleisch und Apfelmus geben, schämte mich aber schon im nächsten Augenblick, weil Sylvia und Marie mich fassungslos anstarrten. Kimi bat um ein bißchen Suppe und noch etwas warmen Blätterteig.
    Während wir aßen, brachte eine Schwester die Post. Da dies der einzige uns erlaubte Lesestoff war, waren wir auf jeden Brief erpicht, gleichgültig, von wem er kam und wie langweilig er war. Ich war noch so neu, daß ich keine Post haben konnte, daher eröffnete mir die Schwester, daß ich in der Sanatoriumsordnung lesen dürfte, die ich tags vorher am Pult bekommen hatte. „Aber,“ fügte sie streng hinzu, „die Patienten dürfen die Post erst aufmachen und lesen, wenn sie alles aufgegessen haben.“ Auf diese Weise konnte die Oberschwester sicher sein, daß wir mit vollem Magen heulten, falls die Nachrichten von zu Hause schlecht waren.
    Die Sanatoriumsordnung begann: „Alles, was nicht Ruhe ist, ist Anstrengung.“ Der Verfasser spann den Gedanken aus… „Wenn Sie sich ein Bein gebrochen hätten, würden Sie nicht damit gehen. Das gleiche gilt von Ihrer Lunge. Ihre Lunge muß Ruhe haben, damit sie heilen kann. Reden, lachen, singen, alles das sind Anstrengungen, die sich vermeiden lassen.“ Das hörte sich alles sehr logisch und leicht verständlich an. Der nächste Absatz kam mir etwas sonderbar vor. „Bitte,“ ersuchte der Verfasser des kleinen Buches, „entwenden Sie nichts aus den Schränken anderer Patienten und bitte spucken Sie nicht auf den Boden.“ Allem Anschein nach waren gesteigerter Sexualtrieb und übertriebener Optimismus nicht die einzigen Kennzeichen für Tuberkulosekranke.
    Von 12 Uhr 30 bis 2 Uhr 30 war Ruhezeit. „Oberstes Gebot im Fichtenhain ist die Einhaltung der Ruhestunden, und jeder Verstoß gegen das Gebot unbedingter Ruhe während dieser zwei Stunden bedeutet sofortige Entlassung,“ hatte es in der Hausordnung geheißen. Außerdem stand da: „Die Gesundung hängt von vom Patienten ab. Ruhe, frische Luft, gutes Essen und späterhin geregelte Arbeit unter Aufsicht, das alles hilft, aber wenn der Patient nicht die Willenskraft, das aufrichtige Bemühen und die Charakterstärke besitzt, sich den Vorschriften zu fügen, wird nichts ihn retten können… Wenn Sie diese nicht aufbringen können und glauben, daß Sie keinen guten Einfluß auf andere ausüben, gehen Sie nach Hause und machen Sie Ihr Bett für einen anderen frei, der nützlich sein kann.“
    Während der Ruhestunden lag ich in meinem klammen Bett, sah auf die blaßgrünen Wände und versuchte, über Willenskraft und Charakterstärke nachzudenken und darüber, wie dankbar ich war, hier zu sein; über die zweihundert Menschen auf der Warteliste, wer sie waren und was sie taten. Marie, Sylvia und Kimi schliefen. Alle anderen schliefen anscheinend auch. Nicht ein Laut war zu vernehmen. Hin und wieder erschien mit erschreckender Plötzlichkeit eine Schwester in der Tür und sah nach, ob wir auch ruhten. Einmal eine freundliche. Sie winkte mir zu und verschwand. Durch die Fenster konnte ich gerade die Krone einer der Pappeln sehen. Ihr gelbes Laub war reglos wie Papierblätter, die mit Fäden an einen künstlichen Baum gehängt sind. Der Himmel war schmutzig weiß, die Luft stahlblau von Nebel.
    So seltsam wirkte sie, diese Stille. Es war Tag, und wenigstens hätte ein ferner Hammerschlag, Hundegebell, das Zuschlagen einer Tür zu hören sein müssen. Es war, als seien wir alle tot. Ich trank einen Schluck Wasser. Es schmeckte scharf und lauwarm, wie Badezimmerwasser, und ich dachte darüber nach, weshalb wohl Wasser aus der Küche immer anders schmeckt als aus dem Badezimmer. Ich tastete mit meinen Füßen nach einer warmen Stelle in meinem Bett. Das war genau so vergeblich, als wenn ich auf einem Zementboden eine weiche Stelle zum Hinlegen gesucht hätte. Ich sah auf meine Uhr. Eins: noch eine und eine halbe Stunde.
    Ich schloß die Augen und versuchte, mich zu entspannen, in jedem Gelenk, in jedem Muskel, so wie ich es unlängst in einem Artikel über Charme gelesen hatte. Angeblich sollte sich eine Hausfrau kurz vor ihrer Abendgesellschaft auf diese Weise entspannt haben, während der Kapaun noch briet, der wilde Reis im Wasserbad weich und die Pistazien-Nuß-Eisbombe hart wurde. Damals hatte ich bei mir gedacht, sie hätte lieber weniger für das Essen und mehr für eine Hilfe ausgeben sollen, aber jetzt war ich dankbar für ihre

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