Einmal scheint die Sonne wieder
unter meiner Haut die Rippen lagen, daß meine Beckenknochen rausstaken wie die Haken in einer Garderobe. Ich wollte mehr über Sylvia wissen, aber Kimi und Marie hatten die Augen zugemacht.
Ich sah aus dem Fenster. Himmel konnte ich sehen und die Kronen der Pappeln, die die Auffahrt säumten. Der Himmel war grau und regenschwer, die Pappeln sahen gelb und schlaff aus. Kein sehr aufheiterndes Bild. Ich guckte durch die Türöffnung hinaus und sah, wie eine Schwester eine Patientin auf einem Bett vorbeischob. Die Frau hatte ihre Augen geschlossen. Ihr Gesicht war so weiß wie das Kissen. Ich überlegte, warum sie wohl nicht in einem Rollstuhl gefahren wurde wie wir anderen; ob sie im Sterben lag; wohin sie kam.
Dann erschienen zwei Schwestern, zogen Sylvia frische Bettwäsche auf und machten unsere Betten. Als sie zu mir kamen, befahlen sie mir, meinen Mund mit einem Taschentuch zuzuhalten und mich von einer Seite auf die andere zu rollen. Erst machten sie das Bett oben, dann am Fußende. Ich fragte sie, warum man die Frau auf einem Bett gefahren hätte und nicht in einem Rollstuhl, und wohin sie käme. Sie antworteten nicht. Ich lag wieder allein in dem aufgeschüttelten, glatten, kalten Bett und hatte Angst.
Ein kleiner, runzeliger Mann mit einer schmutzigen weißen Mütze und sauberem blauem Overall kam zum Fegen. Er heiße Bill, sagte er. Während er fegte, schniefte er laut und sah sehnsüchtig aus dem Fenster anstatt auf seinen Besen, der graue Staubflocken unter den Betten unberührt ließ. Ich fragte ihn, ob er auch Patient sei, worauf er sein schmales, trauriges Gesicht vom Fenster abwandte: „Patient ist gut. Geschlagene neun Jahre bin ich hier Patient.“ Neun Jahre! Lieber Gott! Gab es überhaupt keine Grenze?
Als er fort war, fragte ich Kami, ob alle männlichen Patienten so alt und traurig seien wie Bill und Charlie. Sie sagte: „Nein, die meisten Männer sind jung, aber wegen der Liebe dürfen junge, kräftige Männer nicht in die Frauenstation und umgekehrt junge, hübsche Schwestern nicht in die Männerstation.“ Ich fragte sie, was denn die jungen Männer täten, und sie erzählte, daß sie im Treibhaus, im Laboratorium, in der Röntgenabteilung und den Läden arbeiteten, wo strenge Aufsicht herrsche. Ich dachte an Bills sehnsuchtsvolle Blicke aus dem offenen Fenster und überlegte, ob er sich wohl nach einem Erlebnis oder einer Arbeit im Treibhaus sehnte.
Um 9 Uhr 30 bot uns eine Schwester heiße Schokolade und kalte Milch an. Sie bemerkte dazu, daß wir nicht gezwungen seien, etwas zu uns zu nehmen; aber ich war schon wieder hungrig, und fror immer noch, so daß ich sehr gern heißen Kakao trank. Kimi tat das auch. Marie und Sylvia wollten nichts. Als die Schwester etwas später wiederkam, um die Kakaotassen fortzunehmen und uns saubere, frischgefüllte Wassergläser hinzustellen, bemerkte sie, daß wir viel Wasser trinken müßten; das sei sehr wichtig bei der Tuberkulosekur.
Um 10 Uhr 30 erschien plötzlich die Oberschwester mit einem Rollstuhl an meinem Bett. Ohne jedes Wort half sie mir in meinen Bademantel, die Pantoffel und den Stuhl und fuhr mich zur Tür hinaus. Ich fragte, wohin wir gingen, aber sie lächelte nur, sagte: „Schschscht“ und fuhr mich einen weiteren Korridor hinunter und in ein kleines Untersuchungszimmer, wo mir ein junger Arzt die Lunge untersuchte. Als ich zurückkam, wollten alle wissen, wo ich gewesen sei und was sie mit mir gemacht hätten. Sie schienen enttäuscht, daß nicht irgendein wichtiges Organ entfernt, irgend etwas aufregenderes geschehen war als eine Lungenuntersuchung.
Um 11 Uhr brachte Miß Hatfield, eine Vertretung der Oberschwester und ein frisches, freundliches Mädchen, Medikamente gegen unsere Beschwerden vom Morgen. Um 11 Uhr 15 kam Charlie, barst beinahe vor schlechten Nachrichten und stellte die Betten hoch. Um 11 Uhr 30 kriegten wir Mittagessen.
Ich war sehr hungrig und das gut zubereitete Essen zu meiner größten Überraschung heiß. Es gab Schweinebraten, Apfelmus, Brot und Butter, Essigfrüchte, Kartoffelbrei und grüne Bohnen, Salat mit Mayonnaise, Tomatensuppe – aus irgendeinem seltsamen Grunde nach dem Hauptgericht –, warmen Blätterteig mit Butter, süßen Auflauf und Tee. Marie sah auf ihr Tablett, stöhnte: „Puuh, schon wieder Schweinefleisch!“ und schob es fort. Sylvia schwieg. Kimi übergoß außer der Nachspeise alles auf ihrem Tablett mit Shoyu-Soße, von der sie eine große Flasche in ihrem Nachttisch hatte. Als
Weitere Kostenlose Bücher