Einmal scheint die Sonne wieder
Kalifornien, Colorado, in Arizona und New Mexico. Marie erzählte, wie sich ihre Großmutter und wie sie selbst sich wundgelegen hätte. Um 9 Uhr wurde das Licht ausgemacht. Ich zog das klamme Bettuch bis an den Hals hoch, streckte furchtsam meine Füße bis in die eisigen Regionen am Fußende des Bettes und dachte sehnsuchtsvoll an herrliche Krankheiten heißer Gegenden, wie Aussatz, Cholera und Sumpffieber.
SECHSTES KAPITEL
Tuberkulose kann jeder haben
Am nächsten Morgen lag ich mit offenen Augen und angezogenen Füßen wach, als das Licht aufflammte und die Waschwassermädchen ins Zimmer platzten. Zu meiner Überraschung war eines dieser „Mädchen“ eine kleine, weißhaarige, ganz alte Frau. Ich wollte eigentlich sagen: „Aber Sie sind doch viel zu alt für Tuberkulose.“ Statt dessen fragte ich sie, wie lange sie schon im Sanatorium sei. „Beinahe ein Jahr. Nächsten Donnerstag ist es genau ein Jahr.“ – „Dann waren Sie doch sicher schon zu Hause krank, bevor Sie hierher kamen?“ vermutete ich. Sie sagte: „Meine Güte, nein, ich bin nie krank gewesen. Pappi hat immer gesagt: ,Eins muß man dir lassen, Nellie, krank bist du nie. Dünn wie ein gerupftes Huhn, aber nie krank.‘ Husten hatte ich natürlich, seit Jahr und Tag, aber wir dachten, das wäre Asthma. Pappi hat immer gesagt: ,Bei allem und jedem kriegt Nellie Asthma, nur bei mir nicht.‘ Als er starb, untersuchte mich der Arzt und schickte mich hierher. Und halb und halb war das auch ein Glück für mich, denn Pappi fehlte mir irgendwie schrecklich. Er hat immer gesagt: ,Nellie, du siehst aus, als wenn jedes Lüftchen dich umpustet, aber ich wette, du überlebst mich noch.‘ Hier draußen sind alle einfach goldig zu mir, als wenn dies mein richtiges Zuhause wäre.“ Ich dachte erbost, wenn dies für sie wie ein richtiges Zuhause sei, müßte sie schon in einer Besserungsanstalt erzogen worden sein. Sie fuhr fort: „Pappi hat immer gesagt: ,Nellie mag die Menschen gern, und alle mögen Nellie gern!“
Warum die Leute Nellie gern mochten, war leicht einzusehen, denn abgesehen davon, daß sie sie gern hatte, goß sie die Waschschüsseln bis zum Rand mit heißem Wasser voll. Ich fragte sie erwartungsvoll, ob sie jetzt jeden Tag Waschwasserdienst haben würde. Da erzählte sie, daß sie zwar alle Leute gern hätte und vom Waschwasserdienst begeistert sei, aber unten in der Ambulanten-Abteilung sei es Vorschrift, daß alle Patienten, die acht Stunden auf sein dürften, sich beim Waschwasserdienst abwechselten. Sie wäre erst am nächsten Sonntag wieder dran.
Als das andere Waschwassermädchen, eine große, laute und rauhbauzige Blondine, von Nellie einen Vorwurf bekam, weil sie nur die üblichen zwei Tassen Waschwasser eingoß, sagte sie: „Herrje, Nellie, du gießt die Schüsseln bis obenhin voll, und hinterher können wir nochmal nach heißem Wasser laufen.“ Nellie sagte bestimmt: „Durdree Swanson, du stellst dich an, als wärst du nie in der Bettlägrigen-Station gewesen und hättest nie versuchen müssen, dich mit ganz wenig lauwarmem Wasser zu waschen. Geh schon ins Badezimmer und hol noch einen Krug voll.“ Durdree antwortete höchst unlustig: „Okay, Nellie,“ und zog mit dem Krug ins Badezimmer.
Als sie fort war, fragte ich: „Was haben Sie gesagt, wie sie heißt?“ Ich dachte Durdree wäre vielleicht ein schwedischer Name. Aber Nellie erklärte: „Durdree heißt sie, D-e-i-r-d-r-e. Ihre Mutter hat den Namen aus einem Buch. Hört sich ulkig an, nicht?“
Durdree hatte Wangen in der Farbe von Kamelienblüten, tiefliegende blaue Augen und aschblondes Haar.
Sie war so hübsch, so gut proportioniert und von so sprühender Lebendigkeit, daß ich bei mir dachte, der Fichtenhain müßte in jede Station so ein Mädchen legen wie sie, damit die Patienten etwas hätten, worauf sie hinarbeiten könnten. Sie war die letzte, bei der man jemals auf Tuberkulose getippt hätte. Das sagte ich ihr. Sie lachte, zeigte dabei eine ganze Reihe makelloser weißer Zähne und bekam tiefe Grübchen. „Hätten Sie mich gesehen, als ich herkam, hätten Sie das nicht gesagt. Da wog ich nur 85 Pfund und hatte ein Jahr lang Tag und Nacht gehustet. Mutter und der Arzt dachten, es wäre nur eine Erkältung. Schließlich hat mich die Schulschwester in die Fichtenhain-Klinik geschickt.“
Durdree war achtzehn Jahre alt, seit zwei Jahren im Fichtenhain und rechnete täglich mit ihrer Entlassung. Sie erzählte uns, daß ihr „Freund“ bei der
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