Einmal scheint die Sonne wieder
werden können… Die Giftstoffe, die von den tuberkulösen Stellen in den Lungen ausgeschieden werden, machen den Tuberkulosekranken nervös, verursachen Herzklopfen, erschweren ihm das Ausruhen… Die Antwort ist Ruhe. Nur Ruhe, Ruhe und nochmal Ruhe. Die Tuberkulose kann auf jedes Organ im Körper übergreifen, und tut es auch. Viel Wasser trinken trägt dazu bei, die Gifte aus dem Organismus zu spülen und verhindert eine Nierentuberkulose.“
Der Chefarzt hatte seinen Vortrag unserem ganzen Zimmer gehalten, wandte sich dann zu mir und sagte: „Sie sind eine schwerkranke junge Frau und müssen noch viel lernen.“ Er ging zu Sylvia, drückte ein paar Minuten an ihr herum und erklärte ihr, daß sie Darmtuberkulose hätte. Er gratulierte Kimi zum Geburtstag und fragte Marie, wie zum Donnerwetter sie eigentlich gesund werden wolle, wenn sie nicht äße. Sie erzählte ihm von ihrer Verstopfung, und er entgegnete: „Alle amerikanischen Frauen machen den Fehler, daß sie zu viele Reklameanzeigen lesen und zu viele Abführmittel nehmen.“ Er verschwand.
Als er gegangen war, weinte Marie, weil sie verstopft war, Sylvia, weil sie Durchfall hatte, Kimi weinte, weil sie achtzehn Jahre war, und ich versuchte, meine Gedanken in ein sauberes Bündel zusammenzupacken, das ich fest verschnüren und mit der Aufschrift „Zum Mittagessen verabreichen“ versehen wollte.
Der Versuch, meine Gedanken zu ordnen, war ebenso vergeblich wie ein Versuch, verschüttetes Quecksilber aufzusammeln. Zwei Gedanken bedrückten mich hauptsächlich, und jedesmal, wenn ich sie aufnahm, zerfielen sie mir in viele kleine, trübe Gedankensplitter. Nummer 1 war: Wer wird die Kinder unterhalten, wenn ich sterbe? Und Nummer 2: Werde ich die Kinder unterhalten können, wenn ich gesund werde?
Der erste fiel in einen Haufen abscheulicher kleiner Einfälle auseinander; sie knüpften an meine Lebensversicherung, an den leeren Stuhl am Eßtisch, die Erziehung der Kinder, an die Frage; wie lange ich zum Sterben brauchen würde, welches die ersten Symptome seien usw. an. Der zweite rief viele tröstliche Bilder vor mein inneres Auge: wie ich in einem verschossenen Morgenrock die letzte Kartoffel schälte; wie ich in einem verschossenen Morgenrock zu Hause Adressen schrieb und uns damit einen kärglichen Lebensunterhalt verdiente; wie ich in einem verschossenen Morgenrock den Kindern aus einer alten Decke Wintermäntel und Pullover aus alten Badeanzügen nähte.
Gleich nach dem Essen verlegte die Oberschwester Marie und Sylvia. Da wir in der Bettlägrigen-Abteilung die ganze Zeit unsere Betten, Nachttische und Stühle behielten, war das Verlegen der Patienten eine ganz einfache Sache. Die Oberschwester packte ihre Stühle auf das Fußende des Bettes und rollte sie an ihren neuen Bestimmungsort. Eine andere Schwester holte die Nachttische und Blumen. Diese fragten wir, ob sie wohl Kimis Bett dahin schieben könnte, wo Sylvias gestanden hatte, mir gegenüber. Sie fragte mißtrauisch: „Hat die Oberschwester das angeordnet?“, und Kimi meinte: „Würden wir sonst wohl fragen?“ Die Schwester schob ihr Bett mißmutig um, und als sie draußen war, sagte Kimi: „Ich hasse es, mir mit Schwindeleien zu helfen, aber manchmal kann ich nur damit durchsetzen, was ich gern möchte.“
Das Mittagessen wurde eine sehr hübsche Mahlzeit. Es gab unter anderem Hühnerfrikassee, Klöße, Spargel und Eis mit Schokoladensoße. Ich versuchte etwas von Kimis Shoyu zu meinen Spargeln und dem Huhn, und es schmeckte mir sehr gut, aber ich fand, daß es eigentlich zu viel des Guten war, wenn man es sich auf das Huhn goß.
Nach dem Essen malte sich Kami die Lippen etwas an; ich hingegen legte mir massenhaft flüssiges Sonnenbraun, Wimperntusche und helles Lippenrot auf. Dadurch sah ich zwar aus wie eine kranke alte Madame, aber es hob meine Lebensgeister um mehrere Grade. Kimi riet mir, daß ich Lippenstift, Spiegel und Kamm unter meiner Decke fest in der schweißfeuchten Hand behalten sollte, und wenn die Schwester dann zum letztenmal durchgegangen wäre, könnte ich, kurz bevor die fremden Schritte der Besucher zu hören seien, rasch noch alles in Ordnung bringen, was durch das Schlafen ruiniert sei. Ich tat, wie sie mir geraten hatte, und behielt Lippenstift, Kamm und Spiegel in meiner feuchten Hand, aber das war unnötig, weil ich nicht schlief und so ruhig lag, daß jeder Strich noch an seinem Platz war, als ich in den Spiegel sah.
Kimis Familie kam um Schlag zwei: ihr
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