Einmal scheint die Sonne wieder
Marine sei, und daß sie sofort, wenn sie aus dem Sanatorium herauskäme, mit ihrer „Freundin“ zusammen nach San Diego „trampen“ wollte. Ich war überzeugt, daß sich dies nicht unter die Überschrift „Erlaubte Formen der Beschäftigungstherapie“ einfügen ließ, aber genau so überzeugt, daß Durdree ohne Schwierigkeiten einen Wagen fände, der sie mitnahm.
Zur Frühstückszeit hatte die recht schwindsüchtige Sonne mit blassen Augen unter ihrer Nebelkapuze hervorzublinzeln begonnen, und wir alle wiegten uns in der Hoffnung, daß sie vielleicht bis zur Besuchszeit richtig herauskäme. Ich überlegte mir traurig, ob wohl irgend jemand zu mir kommen würde. Kimi sagte: „Ich hoffe bestimmt, meine Familie hat alle meine Briefe bekommen. Meine Mutter ist manchmal so zerstreut. Immer schreibt sie Gedichte und vergißt meinen Auftrag.“ Ich fragte, was für Aufträge sie ihr gegeben hätte. „Auftrag für die dicken Socken und Wolljacken und Fausthandschuhe. Aber es sähe meiner Mutter ähnlich, wenn sie die warmen Sachen ganz vergäße und mir eins von ihren schönen Frühlingsgedichten mitbrächte.“
Auf dem Gang fing ein schreckliches Geklapper an, und zwei Schwestern schoben eine große Waage herein, denn außer daß es Sonntag und Besuchstag war, war es auch der letzte Tag im Monat und Wiegetag. Man konnte die Hoffnung spüren, die das Zimmer bis in den letzten Winkel erfüllte, als wir nacheinander aus dem Bett und auf die Waage geholt wurden, denn eine Gewichtszunahme bedeutete wenigstens eine erste Stufe auf dem Anstieg zur Gesundheit. Abnehmen hieß so viel wie abrutschen, und wir sahen mit fast greifbarer Deutlichkeit vor uns, wie Sylvia in wilder Verzweiflung versuchte, sich an irgend etwas anzuklammern, damit sie nicht noch weiter abrutschte, dem gähnenden Abgrund entgegen, als sie mit erschrockenen Augen und angehaltenem Atem die gleichgültigen Schwestern die Gewichte stellen und zurückschieben sah, zurück, zurück und noch weiter zurück. Sylvia hatte 6 Pfund, Marie 3 Pfund abgenommen, Kimi 5 Pfund zugenommen, und ich wog genau so viel wie in der Klinik, hatte also laut Tabelle für mein Alter und meine Größe 23 Pfund Untergewicht.
Noch eine ganze Weile, nachdem die Waage fortgefahren war, lag die Verzweiflung still und schwer im Zimmer. Selbst die Sonne schien ihr Versprechen vergessen zu haben und hatte weder Saft noch Kraft. Sylvia sah vor sich ins Leere und zupfte nervös an ihrem Bettuch. Marie drehte mit einem ihrer dünnen Finger am Kopf ihres Nachttischschubfaches. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen dunkel vor Zorn. Kimi betrachtete ihre Handflächen. Ich sah zu, wie der Wind mit der Ecke der Papierserviette spielte, auf der mein Wasserglas stand.
Dann kam aus Kimis Ecke ein leises Geräusch. Ich guckte hinüber und sah, daß sie weinte und sich die Augen mit dem Bettjäckchen zuhielt. Was sie denn hätte, fragte ich sie, worauf sie hilflos antwortete: „Ich bin nicht froh, daß ich die einzige bin, die zugenommen hat. Ich komm mir vor wie ein fettes, einsames Schwein.“
In dem Augenblick kam der Chefarzt herein. Er war allein, ohne das übliche Gefolge von Schwestern und Stationsärzten, was ebenso erstaunlich war, als hätten wir Aspirin bekommen ohne das Wasser zum Nachtrinken. Er trat an mein Bett. „Wie fühlen Sie sich?“ fragte er, und an seiner Art zu fragen und dem Ausdruck in seinen Augen merkte ich, daß er es bereits wußte und meine Ansicht ihm gleichgültig sei. Aber ich sagte trotzdem, daß ich fröre.
Das löste einen ausführlichen Vortrag aus, den ich im Auszug wiedergebe. „Es ist besser, Ihnen ist zu kalt als zu warm. Bei zu großer Wärme werden die Patienten unruhig. Je näher dem Schlafzustand sie gehalten werden können, desto größer sind ihre Chancen zur Genesung… Am besten wäre ein Winterschlaf wie bei den Bären… Auf Ruhe kommt es an, nur auf Ruhe und nochmal Ruhe. Bloß im Bett zu liegen ist noch kein Ausruhen. Das Ausruhen geschieht genau so mit dem Geist wie mit dem Körper… Tuberkulose entsteht durch den Tuberkelbazillus, einen roten, stabförmigen Mikroorganismus… Bis heute hat man noch kein Medikament gefunden, das diesen Bazillus tötet und nicht zu giftig für den Patienten ist… Der Patient kann den Bazillus nur dadurch loswerden, daß er ihn von den Lungen abkapselt. Dieser Abkapselungsprozeß vollzieht sich durch Bindegewebswucherungen, die zarter sind als ein Spinnennetz und durch die leiseste Bewegung zerrissen
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