Einmal scheint die Sonne wieder
Alison immer noch von den „Heuschrecken“ umschwärmt sei, wie Mutter ihre Schulfreundinnen nannte, die sich nach der Schule auf das Haus niederließen und alles aufaßen, was nicht aus Metall bestand oder in einem Darrofen geröstet war. Daß Madge gerade in diesem Augenblick sehr schön Klavier spiele, trotz eines Verbandes um den rechten Arm, der fast bis zur Schulter hinaufginge. Mutter schrieb, Madge hätte noch nicht verlauten lassen, ob der Verband auf Knochentuberkulose deute, oder daß sie Anstalten träfe, gegen Ende der Woche nicht zur Arbeit zu gehen. Daß alle mich schrecklich vermißten, die Kinder sich aber sehr gut an meine Abwesenheit gewöhnten.
Der ganze Brief war so sehr Mutter, als hätte sie ein Stückchen aus sich herausgeschnitten und es mir geschickt. Ich las ihn kurz vor den Ruhestunden zum viertenmal, und an dem Tag konnte ich endlich an zu Hause und die Kinder denken, ohne daß als Kulissengeräusch ein Sargdeckel zuschlug. Während der Ruhestunden machte ich Pläne für die Zukunft, aber sie unterschieden sich von allen früheren, weil sie auf der Voraussetzung „Wenn ich gesund werde“ beruhten, anstatt auf „Falls ich sterbe“. Die Ruhezeit schien noch immer zweihundert Stunden zu dauern, und ich fror immer noch, aber das hatte jetzt einen Sinn. Es war, als wenn man einen Schmerz aushält, damit ein Splitter entfernt wird; nicht mehr, als wenn man den Schmerz nur um seiner selbst willen aushält.
Als schließlich der Verpflegungswagen den Flur herunter geklappert kam, verspürte ich nichts von der üblichen nervösen Zerschlagenheit am Ende der Ruhestunden. Ich fühlte mich entspannt und erfrischt. Als ich meine Buttermilch trank, kam eine Schwester herein und brachte mir einen großen Kasten mit blaßrosa Nelken, meinen Lieblingsblumen. Sie trug die Schachtel wieder hinaus, und als sie zurückkam, hatte sie die Nelken in etwas hineingestopft, das wie ein großes Stück Milz aussah. Bei näherer Betrachtung stellte sich heraus, daß es nur eine Terrakotta-Vase war, die der Form und Farbe nach an die Milz erinnerte. Wenigstens hatte das den Geruch der Blumen nicht beeinträchtigt, und wenn ich nahe am Bettrand auf der Seite lag, genau in der Richtung des kalten, rauhen Windes, war das fast so wohltuend, als wenn ich mein Gesicht in den Nelken vergraben hätte.
Das Zimmer war sehr still. Eileen schrieb unter der Decke einen Brief, Minna schlief, und Kimi benutzte ihre fünfzehn Minuten Lese- und Schreibzeit, um sich ein paar Filmzeitschriften anzusehen, die Eileen ihr am Morgen großzügig in eigener Person ausgehändigt hatte. Ich roch meine Blumen und hörte auf das feine Kratzen von Eileens Feder, auf das leise Rascheln, wenn Kami eine Seite umdrehte. Plötzlich war die Oberschwester im Zimmer. Sie war ärgerlich, und ihre wirklich schönen blauen Augen funkelten. „Von anderen Patienten ist mir berichtet worden,“ sagte sie, „daß in diesem Zimmer abends Lärm ist. Stimmt das, Mrs. Bard?“ Ich stotterte: „Wieso, mh, eh, mh…,“ und Eileen sagte: „Wer hat da gepetzt?“
Die Oberschwester drehte sich um und versetzte ihr einen Blick, der an eine eiskalte Dusche erinnerte. Sie sagte: „Ich will wissen, ob das stimmt, was man mir von Lärm hier im Zimmer am Abend berichtet hat.“ Kimi fragte: „Wieviel Leute haben von diesem Lärm berichtet?“
„Was hat das zu sagen, Miß Sambo?“ entgegnete die Oberschwester, und Kimi sagte: „Wenn viele Leute von Lärm gesprochen haben, muß es das Radio sein; denn wenn es so laut wäre, daß viele Leute den Lärm hören könnten, würde die Schwester ihn auch hören und verbieten. Gelegentlich plaudern wir abends ein bißchen, aber nicht so laut, daß die ganze Station es hören kann.“, Die Oberschwester machte ein völlig verdutztes Gesicht: „Die Patientin hat aber gesagt“ – und da wußten wir, daß es eine ganz bestimmte Patientin war –, „daß sie Sie lachen und reden gehört hat.“ Wir alle schwiegen. Die Oberschwester fuhr fort: „Sie hat gesagt, daß sie Sie ganz deutlich gehört hat, Mrs. Bard.“ Ich entgegnete: „Aber seit ich hier bin, habe ich noch nicht ein einziges Mal laut gesprochen. Wie konnte sie da meine Stimme erkennen? Flüstern hört sich doch bei jedem gleich an.“ Eileen sprach scheinbar vor sich hin, doch mit sehr lauter Stimme: „Dreckiger kleiner Petzer.“ Die Oberschwester schloß: „Sie werden noch was zu hören bekommen.“
Mir fiel auf, daß nicht eine ihrer Beschuldigungen
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