Einmal scheint die Sonne wieder
bekommen: „Die Japaner sind so kleine Geschöpfe, ich bin mir schon immer vorgekommen wie Gulliver bei den Liliputanern.“ Ich tröstete sie: „Aber so sehr groß sind Sie gar nicht, Kimi.“ Kimi sagte: „O doch, jetzt bin ich schon 1,68 Meter, und sicher wachse ich noch.“ – „Aber ich bin 1,70 Meter,“ sagte ich, und Eileen: „Ich bin 1,65 Meter.“ – „Und ich armes Kleines,“ schaltete sich Minna ein, „komm mit hohen Absätzen nicht auf 1,55 Meter. Für mich ist es bloß ein Glück, daß mein süßes Dickerchen immer sacht: ,Klein, aber fein'“ Eileen fahr los: „Und mir wird bei einem Satz von Ihrem Gequatsche genau so speiübel, als wenn Sie stundenlang reden.“ – „Und der Biß von einer kleinen Klapperschlange ist genau so tödlich wie der von einer großen,“ schloß Kimi ab und bewegte sich langsam und hoheitsvoll zur Tür hinaus.
SIEBTES KAPITEL
Langsam, langsam schleicht die Zeit dahin
Die ersten zwei Wochen im Fichtenhain vergingen im Fluge. Alles war neu, alles interessant, und ich war krank. Trotz Eileen, Minna, der Waschwassermädchen, der Lagermädchen, trotz Charlie, Bill, des Lagerjungen (der die Aufträge des Mädchens erledigte), und des Besuchs ruhte ich und ruhte und ruhte und ruhte. Und wie der Chefarzt vorausgesagt hatte, fiel mir das Ruhen leichter, mein Puls ging langsamer, und als ein stiller, langer Tag dem anderen langen, stillen folgte, entspannte ich mich immer mehr.
Auf den Tag genau zwei Wochen, nachdem ich ins Sanatorium gekommen war, schlief ich die ganze Nacht durch und hustete überhaupt nicht, als ich am nächsten Morgen aufwachte. Gegen 10 Uhr war das Gefühl von Wohlbehagen so stark, daß es mir fast die Kehle zuschnürte. Ich war voller Energie, mein Kopf war klar, nirgends tat mir was weh, und ich liebte den Fichtenhain und jeden einzelnen dort. Die Mutlosigkeit und die schreckliche Verzagtheit, in die ich mich eingesponnen hatte, seit dem Abend, an dem ich erfuhr, daß ich Tuberkulose hatte, waren während der Nacht auf geheimnisvolle Weise von mir abgezogen worden, und obwohl es ein kalter, nebliger Morgen war, obwohl das Waschwasser sowie meine Wärmflasche lauwarm gewesen waren, fegte ich diese Dinge aus dem Tag fort wie einen Krümel vom Bettuch. Ich fühlte mich wohl!
Mittags brachte Miß Muelbach, die Eileen Schmalzgesicht getauft hatte, die Post und schmiß sie uns hin, so daß ein Brief von Mutter in meine Teetasse fiel. „Armes Ding,“ dachte ich, da ja ein Glorienschein von Freundlichkeit und Einsicht mich umstrahlte, „sicherlich müde.“ Ich lächelte Miß Muelbach wohlwollend zu, worauf sie mich versteinert anstarrte. Ich fing an, den Tee von Mutters Brief zu wischen, aber sie sagte: „Sie wissen, daß es Ihnen nicht erlaubt ist, ihre Post zu lesen, bevor Sie zu Mittag gegessen haben.“ – „Oh, ich will sie gar nicht lesen,“ flötete ich so süß, daß es sich fast wie Gesang anhörte. „Ich wische nur den Tee ab.“ – „Na, dann ist’s gut,“ meinte Schmalzgesicht und trampelte auf ihren grauen, behaarten Beinen aus dem Zimmer.
Mutters Briefe sind schon immer ein Hochgenuß gewesen, und sie ist eine so unermüdliche und fließende Briefschreiberin, daß die Familie sie oft als „Skrib“ bezeichnet. Wenn ich Briefe schreibe, suche ich mir gewöhnlich einen kleinen Vorfall aus, und durch eine Methode von Lügen und kümmerlichen Beschreibungen bausche ich ihn auf und nochmals auf, bis etwas Langweiliges, aber sehr Langes daraus geworden ist. Mutter belästigt uns nie mit solchen Manövern. Sie setzt sich einfach an ihren Tisch und schreibt, was in dem Augenblick gerade los ist.
Dieser Brief berichtete mir, daß einer der Hunde sich einen Dorn in die Pfote gelaufen hätte. Daß ein Nachbar gerade vor seinem Fenster für besseres Tageslicht sorgte, indem er den letzten lebendigen Ast von dem armen Pflaumenbäumchen seiner Frau abschnitt. Daß sie gerade einen Apfelkuchen gebacken hätte. Daß Anne sie bäte, eine Schule zu suchen, die keine „Rhythmetik“ im Stundenplan hätte. Daß dauernd große Jungen von sechzehn und siebzehn an der Tür klopften und fragten, ob Joan den Ballwerfer für ihre Baseball-Mannschaft machen könnte.
Daß Dede einen Mantel schneidere und mit ihrer gewohnten Dickköpfigkeit von niemand einen Ratschlag annähme. Mutter schrieb: „Mir fällt es recht schwer, Abend für Abend ruhig daneben zu sitzen und zuzusehen, wie sie versucht, die Ärmel verkehrt herum reinzuzwängen.“ Daß
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