Einmal scheint die Sonne wieder
mir.“ Die Oberschwester brachte ihr eine Bettlampe, die vermutlich – wie Kimi ihr freundlich versetzte – einem verstorbenen Patienten gehört hatte. Auch Eileen hatte damals noch keine Lampe und war wütend. Als die Oberschwester Minnas Lampe festgemacht hatte, sagte sie: „Jesus, liebe, gute Schwester, hier bei mir ist’s auch soo duhster.“ Aber alles, was sie bekam, war ein kalter Blick.
Am nächsten Tag regnete es. Kalter, nasser, grauer durchdringender Regen. Es blies zu den Fenstern herein und unter die Decken, und Kimi, Eileen und mir war kalt und jämmerlich zumute. Granitauge füllte Minnas Wärmflasche zweimal auf. Während der Ruhestunden las Eileen unter der Decke Filmzeitschriften, Minna aber las die Bibel und ließ sich dabei ertappen. Die Schwester, die sie erwischte, war jung und noch neu, sonst wäre die Strafe drastischer ausgefallen. Gerade als sie in die Tür kam, raschelte Minna mit den Seiten. Die Schwester schlug die Decke zurück und, siehe da, die kleine Minna preßte ihre Bibel an sich und schaute mit großen, erschrockenen blaßblauen Augen auf. Die Schwester sagte:
„Das Lesen in den Ruhestunden ist verboten, Mrs. Walker. In den Ruhestunden ist jede Beschäftigung verboten, Mrs. Walker. Neue Patienten dürfen im ersten Monat weder lesen noch schreiben, Mrs. Walker.“ Minna entschuldigte sich: „Oh jö, das tut mir ja so leid, Liebes. Die anderen Mädels haben gelesen, und da dachte ich, es wäre nichts dabei. Huch, was ist mir da raus gerutscht! Das wollt ich doch gar nicht sagen.“
Sie sah zu uns hinüber. Kimi schlief. Eileen hatte ihre Filmzeitschriften unter ihre Matratze gestopft. Die junge Schwester sagte: „Gut, diesmal werd ich Sie nicht melden, aber nächstes Mal erfährt’s die Oberschwester.“ Verlegen raschelte sie hinaus. Eileen griff nach unten und holte sich wieder ihre Filmzeitschriften vor, dann sah sie zu Minna hinüber und knurrte: „Biest.“ Minna hatte die Augen geschlossen. Die Bibel lag weithin sichtbar auf ihrem Nachttisch.
Das Personal im Fichtenhain sprach mit den Patienten nie über Tuberkulose. Wenn man die Ärzte oder Schwestern fragte, ob man Fortschritte gemacht hätte oder nicht, bekam man einen unverbindlichen Blick, aber keine Auskunft. Der Chefarzt gab jedoch gedruckte Broschüren über Tuberkulose, ihre Ursachen und ihre Heilung heraus. Diese erschienen in Form von Lektionen und wurden den Patienten alle paar Tage zugestellt.
Meine erste Lektion über Tuberkulose begann: „ Tuberkulose ist ansteckend : Der Bazillus wird beim Niesen oder mit dem Auswurf aus Nase oder Kehle ausgestoßen. Die Patienten haben sich beim Niesen oder Husten immer den Mund zuzuhalten. Durch Händeschütteln und Küssen wird der Bazillus auf andere übertragen. Wischen Sie sich weder die Hände noch das Gesicht an den Bettüchern ab. Schlucken Sie niemals den Auswurf hinunter. Das ist gefährlich! Es kann der Anfang sein zu jener Komplikation, die als Darmtuberkulose bezeichnet wird… Ein unachtsamer Patient ist gewissen- und charakterlos. Wenn er nichts zulernt, muß er nach Hause geschickt werden.“
Ich fragte Kimi, ob sie wüßte, wie sie Tuberkulose bekommen hätte. Sie sagte: „Ich weiß nicht genau, aber ich glaube durch die Auszeichnung. Von 8 bis 3 Uhr 30 bin ich in die amerikanische höhere Schule gegangen, und in die japanische Schule von 4 bis 6. Mein Vater verlangte von mir, daß ich in beiden Schulen Auszeichnungen bekam. Zum Schluß hatte ich zwei Diplome, zwei Abzeichen und Tuberkulose.“ Ich fragte sie, ob irgend jemand in ihrer Familie mal Tb gehabt hätte. „Nein,“ entgegnete sie, „aber die Japaner haben als Rasse keine Widerstandskraft gegen Tuberkulose. Als meine Mandeln herausgenommen wurden und mein Hals nicht heilen wollte, vermutete mein Arzt Tuberkulose. Bei mir ist es ein leichter Fall, aber, wer weiß, ohne Widerstandskraft sterb ich vielleicht noch in diesem Jahr.“ Sie fragte Eileen, wie die sich die Tb geholt hätte. Eileen meinte: „Tja, hier steht, daß sie ansteckend ist und durch Händeschütteln und Küssen übertragen werden kann. Ich hab sie sicher vom Händeschütteln gekriegt.“ Sie lachte und erzählte, da ihre Mutter und ihr Vater am Tb gestorben wären, hätte ihre Großmutter ihr ewig eingeredet, daß sie sie auch noch kriegen würde. „Vermutlich freut sie sich jetzt,“ schloß sie. Minna sagte: „Eileen Kelly, so etwas von Ihra armen alten Großmahmah zu sagen, ist abscheueulich.“
Eileen
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