Einmal scheint die Sonne wieder
sich hatte, und wir lächelten uns begeistert zu.
Unsere Begeisterung war jedoch nur von kurzer Dauer, denn zur Abendbrotszeit hustete meine nächste Nachbarin, die Rassellunge, würgte, räusperte sich, schnüffelte, schnarchte und spuckte das ganze Abendbrot über. Sie war so dicht neben mir, daß ich mir manchmal unwillkürlich den Mund zuhielt, wenn sie hustete. Es war schrecklich. So, als hätte ich einen Siamesischen Zwilling. Aber einen mit fortgeschrittener Tuberkulose und ohne Taktgefühl. Ich gab Kimi meinen Ekel und meine Übelkeit durch Zeichen zu erkennen, als sich die Frau uns gegenüber im Gang übergeben mußte.
Da mir von klein auf gepredigt worden war, daß ich mich, gleichgültig, wie schlecht mir war, zusammenzunehmen hätte, bis ich ins Badezimmer kam, konnte ich mich niemals an die Hemmungslosigkeit gewöhnen, mit der sich die Leute im Fichtenhain übergaben. Ich stellte fest, daß das Erbrechen um die Abendbrotszeit am häufigsten auftrat, und überlegte, ob die erbaulichen Gedanken etwas damit zu tun hätten. An diesem Abend hatte es geheißen: „Kleinigkeiten berühren nur kleine Geister.“ – „Was du nicht sagst!“ dachte ich ärgerlich als ich einen Bissen geröstete Kartoffeln in den Mund steckte und die Frau im Bett nebenan ihren gesamten Atmungsapparat zu säubern begann.
Uns gegenüber im Flur, in genau so einem Zimmer wie unserem, lagen zwei Patientinnen. Eine war klein, hatte eine gelbliche Gesichtsfarbe und flüsterte unaufhörlich, obwohl am Kopfende ihres Bettes ein großes Schild mit der Aufschrift „Schweigen!“ befestigt war. Die andere, mit dunklem Haar und frischen Farben, hatte sich übergeben. Ich sah, daß die kleine bleiche ihr Abendbrot verspeiste, während die Schwester die andere abschrubbte. Auch ich versuchte, meinen Geist über die Materie zu erheben, aber es gelang mir nicht. Ich trank etwas Tee und schob das Tablett fort. Kimi machte es genau so. Sie sagte: „Ich glaube, wenn Fremde sich übergeben, ist mir das widerlicher als bei einem lieben Freund wie Sylvia.“
Als die Oberschwester durch die Zimmer ging, sagte sie: „Aber Sie haben ja Ihr Abendbrot nicht gegessen, alle beide nicht. War Ihnen das Verlegen zu viel?“ Sie ließ durchblicken, daß sie uns dann sofort zurückbringen würde. Ich deutete auf die Frau neben mir, die gerade anfing, sich ihren rechten broncho-pulmonalen Lymphknoten vorzunehmen. Kimi sagte: „Die Frau gegenüber hat sich übergeben, als ich anfing zu essen.“ Die Oberschwester belehrte sie: „Aber solche Kleinigkeiten darf man doch nicht an sich heranlassen. Man muß lernen, über sie hinwegzusehen. Nun essen Sie mal!“ Ihre Stimme klang freundlich, aber mit ihren Blicken nahm sie uns in die Zange.
Ich fand, daß sich kalte Röstkartoffeln bei Spuckgeräuschen als Tischmusik noch schlechter herunterkriegen ließen als warme, und so aß ich nun alles schnell auf, solange es noch heiß war. Wir lagen jetzt näher an der Küche, und das Essen war etwas wärmer. Die Oberschwester hatte natürlich recht. Mein widerlicher Siamesischer Zwilling säuberte sich auch weiterhin die Atmungskanäle während der Mahlzeiten, und die Frau uns gegenüber erbrach sich mindestens jeden zweiten Tag; aber nach dem ersten Abend ließen Kimi und ich kein Essen mehr stehen. Kleinigkeiten berührten uns nicht.
Als an jenem Abend das Licht gelöscht wurde, hatten Kimi und ich gemerkt: infolge der Stellung unserer Betten und der schweren Markisen über ihrem Kopfende konnten wir in unserem Zimmer nie aus dem Fenster gucken, bei den Mahlzeiten aber durch die geöffneten Fenster auf der anderen Seite des Ganges das Wasser des Sundes sehen, ein paar Madrona-Bäume, die große Liegeveranda und das Kinderkrankenhaus; es war viel kälter und zugiger in den Zellen; wir wurden sehr viel mehr von der Oberschwester überwacht, wir vermißten Eileen und konnten kein Radio hören, weil die Patientin, die dem Schalter am nächsten lag, ein Musterexemplar war und ihn nicht lauter stellte. Die Musik schwoll an und verklang wieder mit dem Wind, wie Parademusik, und bei den Hörspielen war es, als wenn man im Restaurant aus der Nebenkoje ein Gespräch mitanhört:… das Beil… Joe… Hilfe!… er sagte, er hätte nichts dafür gekonnt… Ich hab den Kopf…“
An jenem Abend brachte uns Katy einen langen, erregten Brief von Eileen. Darin hieß es: „Seit Ihr weg seid, Kinder, hab ich nur geheult. Wir haben zwei neue Patienten. Eine alte Tante, die immerzu
Weitere Kostenlose Bücher