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Einmal scheint die Sonne wieder

Einmal scheint die Sonne wieder

Titel: Einmal scheint die Sonne wieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Betty McDonald
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bürstete und kämmte sich heftig, doch die Wolle saß fest und ihr Haar glättete sich nur zu klebrigen Strähnen. Ich schlug ihr vor, sie sollte es der Oberschwester beichten, damit ihr das Haar vielleicht noch einmal gewaschen würde. Kimi sagte: „Nie und nimmer. Sie würden mich raus werfen und sterben lassen. Ich bin das lebendige Beispiel, das diese Patienten schon lange brauchen.“ Ich erklärte ihr, daß ich überzeugt sei, ein Patient müßte schon etwas sehr viel Schlimmeres anstellen, als sein Haar in Zuckerwasser zu tauchen, damit er aus dem Fichtenhain hinausgeworfen würde, doch Kimi meinte: „Ja, aber genau wissen Sie das nicht, und ich kann mir nicht leisten, es drauf ankommen zu lassen.“
    Einen Monat lang quälte sie sich mit ihrem klebrigen Haar herum, riß morgens ihren Kopf vom Kissen los und abends ihre Kapuze vom Kopf. Dann wurden ihr wieder die Haare gewaschen, und sie kam wütend und mit rotem Kopf aus dem Badezimmer zurück. Das Haar stand ihr zu Berge. Als sie den Kamm durchriß, sah sie mich mit ihren blitzenden schwarzen Augen an und sagte: „Ich denk, ich nehm doch wieder Zucker.“
    Am 20. Oktober fand meine erste Röntgenaufnahme und meine erste Reise durch die Tunnels des Fichtenhains statt. Das Röntgenlaboratorium war unter der Erde, irgendwo zwischen dem Verwaltungsgebäude und der Bettlägerigen-Abteilung. Um mich dahin zu bringen, setzte man mich in einen Rollstuhl und beförderte mich mit dem Fahrstuhl ins Kellergeschoß der Bettlägerigen-Abteilung, dann im Eiltempo bergab, um Ecken herum und einen erleuchteten Zementtunnel entlang, bis wir an eine Tür mit der Aufschrift „Röntgen“ kamen.
    Der Patient, von dem Aufnahmen gemacht werden sollten, mußte sich – gleichgültig welchen Geschlechts – bis zur Taille frei machen, in dem großen Röntgenraum stehen und verschiedene Stellungen einnehmen, während der Laborant und zwei Assistenten die Röntgenaufnahmen machten.
    Zuerst war ich fürchterlich verlegen, als ich mit den Händen auf den Hüften, doch ohne das Oberteil meines Pyjamas dastand, mich nach rechts und links beugte und erst den rechten, dann den linken Arm hob. Doch bald gewöhnte ich mich daran. Im Fichtenhain interessierte sich niemand für irgendeinen Körperteil außer den Lungen. Kimi erzählte, als man sie zuerst geröntgt hätte, hätte man sie auf eine Marmorplatte gelegt und in drei Zentimeter breiten Streifen auf genommen. Sie sagte: „Es war wie ein furchtbarer Traum mit all den fremden Männeraugen und den fremden Männern, die auf meinen nackten Rücken Kreidezeichen machten. Jetzt bin ich wie eine Eingeborene von Bali und komme mir bloß mit einem Hemd ganz angezogen vor.“
    Am 28. Oktober, einem rauhen, stürmischen Sonntagmorgen, kam die Oberschwester in unsere Zelle und sagte: „Mrs. Bard, Sie sind heute einen Monat hier. Der Arzt sagt, daß Sie täglich fünfzehn Minuten lesen und schreiben können, und einmal am Tag dürfen Sie ins Badezimmer gehen.“ Sie lächelte und sagte: „Ich habe Ihnen die Sonntagszeitungen mitgebracht. Überschreiten Sie aber die Zeit nicht.“
    Vor wenigen Minuten noch war unser kleines Zimmerchen kalt und bedrückend gewesen, weil der Wind durch die Fenster heulte, der Regen auf die Simse platschte und die grünen Wände feuchten Gefängnismauern glichen. Jetzt, nach der ersten Bestätigung dafür, daß ich gesund wurde, und bei der köstlichen Aussicht, ins Badezimmer zu gehen, wandelte sich das ganze Bild. Ich drehte meine Bettlampe an und stürzte mich auf die amüsanten Blätter. Wie gemütlich alles schien!
    Ich sah zu Kimi hinüber, die eifrig einen Brief schrieb, zu den zwei Frauen auf der anderen Seite des Flurs, zu den geschäftigen, tüchtigen Schwestern, die an der Tür vorbeihuschten. Aus der Diätküche kam das lustige Geklapper von Tabletts, die abgeräumt, und Tellern, die aufgestapelt wurden. Die Fahrstuhltüren klappten, man hörte den angenehm männlichen Polterton der Stimme eines Arztes und das Knarren eines Rollstuhls. Ein heftiger Windstoß und ein Regenschauer trieben mich tiefer unter meine Decke, aber das machte mir nichts. Ich las Zeitungen und dachte, wie gut es sich an einem stürmischen Sonntagmorgen im Fichtenhain leben ließ.
    Wie für alles andere galten auch für den Gang ins Badezimmer bestimmte Regeln. Eine Patientin, die sich dieses Privilegs erfreute, zog sich nach dem Frühstück Morgenrock und Pantoffel an und setzte sich auf die Bettkante, bis die Patientin

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